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Im Video: Die Chronologie des Doppelmords von Herne

Im Video: Die Chronologie des Doppelmords von Herne

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Chronik Doppelmord Herne

Im Video: Die Chronologie des Doppelmords von Herne

Chronik Doppelmord Herne

Marcel H. tötete den kleinen Jaden und Christopher W. aus Herne. Die Chronik der Morde, der Flucht und der Festnahme.

  • Am Freitag startet der Prozess gegen Marcel H.
  • Er soll in Herne zwei Menschen brutal ermordet haben
  • Der Fall beschäftigt Menschen weit über die Region hinaus
  • Wir fassen die Ereignisse zusammen

Herne. 

Die Straßen sind menschenleer. Der Himmel ist grau. Es nieselt.

Auf den Schulhöfen: kein Kinderlachen. Manche Eltern lassen ihre Kinder gar nicht erst nach draußen. Angst hängt über der Stadt wie eine Dunstglocke. 72 Stunden lang.

Herne: Eine Stadt sucht einen Mörder.

Am Anfang dieser 72 Stunden passierte hier eines der grausigsten Verbrechen der letzten Jahre in ganz Deutschland.

Montag, 6. März 2017:

Marcel H. plant seinen Tod. Den Grund kennt wohl nur er selbst. Aber aus dem, was er später einem Freund schreiben und noch später bei der Polizei aussagen wird, entsteht ein Bild:

Der 19-Jährige ist zutiefst frustiert. Sein Traum, zur Bundeswehr zu gehen, ist geplatzt; wegen seines Sehfehlers wird er abgelehnt.

Bald soll er mit seiner Mutter in eine andere Stadt ziehen. Er fürchtet, dort keinen schnellen Internetzugang mehr zu haben. Die Aussicht, ohne Online-Spiele auskommen zu müssen, lässt schließlich Suizidgedanken keimen.

Mit einem Gürtel versucht er sich zu erhängen, doch der Gürtel reißt unter seinem Gewicht. Dann zündet er einen Grill in seiner Wohnung an. Das Kohlenmonoxid soll ihn vergiften und sterben lassen. Doch auch das klappt nicht.

Weil er sich selbst nicht töten kann, will er einem anderen Menschen das Leben nehmen – ein Gedanke, der für die meisten Menschen wohl nicht nachvollziehbar ist. Doch Marcel H. denkt ihn offenbar, ihm ist jetzt alles egal. Er habe „Vorbereitungen“ getroffen, schreibt er einem Bekannten via Whatsapp. Dann sucht er sich sein Opfer.

18.20 Uhr: Marcel H. klingelt bei den Nachbarn. Den neunjährigen Jaden kennt er schon lange. Die Familien wohnen buchstäblich Wand an Wand, haben zusammen im Partykeller von Marcels Eltern gefeiert.

In genau diesen Keller lockt der 19-Jährige das Nachbarskind: Er brauche Hilfe mit einer Leiter, sagt er dem Jungen – und Jaden geht mit.

52 Mal sticht Marcel H. im Keller dann auf das Kind ein.

Um etwa 18.40 Uhr schickt er seinem Bekannten ein Foto. Es ist ein Selfie: Mit einer blutverschmierten Hand schaut er grinsend in die Kamera. Dann verschwindet er.

Gegen 19 Uhr meldet sich H. noch einmal bei seinem Bekannten. Er habe das Nachbarskind getötet, er „fühle sich nicht schlecht“, schreibt er.

Der Bekannte postet die Whatsapp-Nachrichten im Internet, ein Nutzer, de den Post sieht, alarmiert die Polizei.

20 Uhr: Jadens Vater und ein älterer Sohn finden die Leiche des Neunjährigen im Keller des Nachbarhauses. Marcel H. ist längst weg.

In einem Waldstück versteckt er sich zunächst. Dann beschließt er, Unterschlupf bei einem Bekannten zu suchen, den er noch aus der Berufsschule kennt: Christopher W.

20.30 Uhr: H. macht sich auf den über fünf Kilometer langen Weg zu Christopher, der in einer Wohnung an der Sedanstraße wohnt. Wahrscheinlich ist er zu Fuß unterwegs, vielleicht versteckt er sich am Rhein-Herne-Kanal, bis es dunkel wird.

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Die Fahndungen der Polizei laufen derweil auf Hochtouren. Eine Spur gibt es aber noch nicht.

Dienstag, 7. März :

10 Uhr: Immer mehr Menschen aus Herne und der ganzen Region kommen zum Haus von Jadens Familie. Sie wollen ihre Anteilnahme zum Ausdruck bringen, legen Stofftiere im Vorgarten ab, entzünden Kerzen. Am Anfang ist es nur ein einzelner Stoff-Bär – am Ende des Tages sind es Dutzende. Die Menschen sind fassungslos, manche brechen in Tränen aus.

Immer wieder kommen auch Männer mit Motorradclub-Kutten zum Haus der Familie. Jadens Vater steht dem Rockerclub Bandidos nahe. Weil die Polizei Hinweise erhält, dass die Rocker eine Selbstjustiz-Aktion planen, starten die Beamten eine Razzia bei den Rockern. Hinweise finden sie nicht.

Vormittag: Marcel H. hat das zweite Mal gemordet: Sein Opfer, Christopher W, liegt in einem Teppich eingerollt neben ihm.

Am Montagabend hatten sie noch Pizza gegessen und ein Computerspiel gespielt: Yu-Gi-Oh. Das haben sie schon oft zusammen gespielt; zwei Kumpels, die die Nacht durchmachen.

Als Christopher W. aus den Medien erfährt, dass Marcel H. gesucht wird, stellt er H. zur Rede. Er ist ja sein Kumpel, kein Mörder. Er wird schon eine plausible Erklärung haben.

Das ist sein Todesurteil, wie es die Staatsanwaltschaft später formulieren wird. H. geht auf Christopher los, würgt ihn mit einem Draht. Schließlich rammt Marcel H. ihm 68 Mal ein Messer in den Körper des 22-Jährigen. Dabei verletzt er sich selbst an der rechten Hand.

16 Uhr: Bilder, die womöglich eine Leiche zeigen, gelangen ins Internet. Auf der anonymen Plattform 4chan tauchen die Aufnahmen in einem berüchtigten Chatroom auf und werden von dort immer weiter verteilt. Ein Nutzer, der sich als Marcel H. ausgibt, schreibt: „Ich habe mich in die Hand geschnitten, als ich das 120 kg Biest bekämpfte. Sie leistete mehr Widerstand als das Kind.“

Angeblich ist er 80 Kilometer mit dem Zug gefahren. Die Polizei veröffentlicht Teile aus dem Chat – in der Hoffnung, weitere Zeugen zu finden. Es sei nicht ausgeschlossen, dass es sich bei den Angaben im Internet um eine Falschmeldung handele, „aber die Gefahrenlage macht es nötig, das ernst zu nehmen.“

Mittwoch, 8. März:

Marcel H. harrt weiter in Christophers Wohnung aus.

9.30 Uhr: Bei der Polizei melden sich Immer wieder Zeugen. In Wetter wollen ihn Menschen gesehen haben, nahe einer Schule. Die Polizei startet einen Einsatz vor Ort – erfolglos.

Die Angst in Herne hat jetzt einen Höhepunkt erreicht. Es gibt Gerüchte, dass H. drei, vier und noch mehr Menschen ermordet habe und Jagd auf Kinder mache. Manche Eltern halten ihre Kinder im Haus und die Schulen verlegen die großen Pausen in die Gebäude.

21.30 Uhr: Die Polizei hat immer noch keine Spur – und veröffentlicht das Bild eines Hundes, der einem möglichen Opfer gehören könnte. Später wird sich herausstellen: Das Bild ist ein Fake und hat nichts mit dem Fall zu tun.

Donnerstag, 9. März

8 Uhr: Im Raum Siegen geben Zeugen an, Marcel H. gesehen zu haben. Auch in einem Krankenhaus in Mönchengladbach soll er gesehen worden sein. In den sozialen Medien waren Bilder aufgetaucht, die scheinbar Marcel H. zeigen – später stellt sich heraus: Auf dem Bild ist ein 16-Jähriger zu sehen, der nur ein wenig so aussieht wie H.: schlaksig, Brille, dunkelblonde Haare.

Am Nachmittag bricht die Polizei auch die Suchaktionen in SIegen ab – wieder gibt es keine Spur.

Gegen 15 Uhr taucht im Netz eine Sprachnachricht von Marcel H. auf. Er beschreibt, wie er sich nach dem Mord an Jaden gefühlt habe. Die Nachricht scheint echt zu sein, sagt ein Sprecher der Polizei. H. spricht emotionslos, er klingt unbeteiligt. So wie er auch später in den Vernehmungen den Kriminalbeamten gegenüber völlig rational seine Taten schildern wird – „eiskalt“ werden die Polizisten das nennen.

Marcel H. verfolgt wahrscheinlich, dass die Fahndung nach ihm immer intensiver wird. Polizeistreifen fahren unentwegt durch Herne, Beamte verteilen Handzettel und Fahndungsplakate. H. hört und sieht die Hubschrauber, die über ihm am Himmel kreisen. Hunderte Polizisten suchen nach ihm – dem Mörder.

20 Uhr: Marcel H. beschließt, sich zu stellen. Zuvor zündet er noch die Wohnung von Christopher an – und nimmt in Kauf, dass andere Menschen in dem Mehrfamilienhaus verletzt werden könnten.

21 Uhr: Mit einem Sack Zwiebeln in er Hand geht er zum „Thessaloniki-Grill“, kaum 100 Meter von der Wohnung entfernt. Christopher W. war hier oft Gast.

Er trägt Handschuhe, nur ein verbundener Zeigefinger ragt aus einem Loch. „Bitte rufen Sie die Polizei, ich bin der gesuchte Marcel“, sagt er zu Imbiss-Besitzer Giorgios Chaitidis. Vollkommen ruhig sei er dabei gewesen, wird Chaitidis später erzählen. „Wie ein ganz normaler Junge“.

Während Marcel H. auf die Polizei wartet, holt er sein Handy aus der Tasche und bittet den Imbissbesitzer, den Akku zu entfernen. Er selbst kann es mit seiner verletzten Hand nicht. Dann zerbricht er das Telefon. Um Beweise zu vernichten, wie er sagt.

Widerstandslos lässt er sich festnehmen. Noch die ganze Nacht sind SEK-Beamte an der Sedanstraße und sichern den Tatort.

Am nächsten Morgen klart es auf. Keine grauen Wolken mehr, der Himmel ist blau, die Sonne scheint. Als wäre nichts gewesen in Herne.

Die Angst ist weg. Jetzt kommt die Fassungslosigkeit.