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Europa muss sich neu erfinden

Europa muss sich neu erfinden

Das griechische Volk ist sauer, weil es das Spardiktat von außen so nicht will. Die Menschen in den Ländern, die die Rettungspakete finanzieren, sind sauer, weil auch sie nicht gefragt wurden. Von Anfang wurden viele Fehler gemacht.

Essen. 

Vor 65 Jahren forderte Winston Churchill die Vereinigten Staaten von Europa. Er tat dies nicht aus Weitsicht, sondern im Rückblick auf Jahre des Grauens. Sein Wunsch, die Befriedung des blutgetränkten alten Kontinents, sollte sich tatsächlich erfüllen. Allein: Von Vereinigten Staaten kann keine Rede sein. Es brauchte keinen Bundesstaat, den Frieden zu wahren. Und spätestens nach dem Desaster im Ringen um eine europäische Verfassung schienen die Vereinigten Staaten begraben.

Jetzt muss Europa sich doch entscheiden, was es sein will. Nicht etwa, weil Kriege drohen. Europa muss sich neu erfinden, weil die Finanzwelt es dazu zwingt. Die Einheitswährung ohne einheitliche Wirtschaftspolitik ist an den Märkten durchgefallen. Sie bewerten Griechenland nicht als Teil einer Union, sondern als einzelnen Pleitestaat. Das führt die ganze Gemeinschaft in eine existenzielle Krise. Doch statt das Europa von morgen zu denken, verlieren sich die Staats- und Regierungschefs in den Wirren der Tagespolitik, brechen ihre eigenen Regeln und vergrätzen die Bürger.

Auslöser ist ausgerechnet eine der größten Segnungen der EU: der Euro. Im Stresstest der globalen Finanzkrise mussten die wirtschaftsstarken Euroländer das kriselnde Griechenland stützen, um ihre gemeinsame Währung zu schützen. Die Väter des Euro hatten aber immer behauptet: Kein Euroland werde für die Schulden eines anderen aufkommen müssen.

Für Unternehmen bedeutete es Insolvenz

Nun ist es doch so gekommen. Weil Griechenland durch den starken Euro viel zu leicht an viel Geld kam, dieses aber in einen überbordenden Staatsapparat gesteckt hat statt in breiten wirtschaftlichen Fortschritt. Seit die Finanzmärkte spitzkriegten, dass Athen seine Bilanzen fälscht, um den europäischen Schuldenregeln zu genügen, verlangten sie immer höhere Zinsen, die Griechenland allein nicht mehr zahlen kann.

Für jedes Unternehmen bedeutet dies die Insolvenz. Für das Mitglied einer Staatengemeinschaft, die vom Vertrauen der Märkte in ihre gemeinsame Währung abhängig ist, nicht. Denn es würde andere mit in den Abgrund ziehen. Deshalb versuchen die Europäer, Griechenland zu retten, mit wachsender Verzweiflung.

Was sie tun, widerspricht allen vormals ehernen Regeln. Mit dem ersten Notkredit war das erste Tabu gebrochen, mit dem Ankauf griechischer Anleihen durch die EZB das nächste. Sie tun es, weil sie glauben, es tun zu müssen, Merkel nennt das „alternativlos“. Doch durch die bewussten Tabubrüche schwindet die demokratische Legitimation.

Die meisten Bürger haben das noch gar nicht gemerkt: Ihre eigenen Regierungen haben ihr wichtigstes Hoheitsrecht beschnitten – das Haushaltsrecht. In jedem Land selbst zu entscheiden, wofür die Steuergelder ausgegeben werden, war aber Grundlage dafür, dass die Bürger dieses Europa überhaupt akzeptiert haben. In ihrer Wahrnehmung war es nie mehr als eine große Freihandelszone.

Europa ohne Akzeptanz

Für die Akzeptanz bei den Bürgern in Paris, Berlin und Athen hat das verheerende Folgen. Man hat sie nicht gefragt, ob Geld über die Grenzen fließen darf. Und die Griechen nicht, ob sie das Geld überhaupt haben wollen – um den Preis fremdbestimmter Sozialkürzungen.

So rutscht Europa in einen Spagat, der es zu zerreißen droht. Einzelstaaten flüchten sich in einen zuweilen reaktionären Nationalismus – siehe Dänemark. Gleichzeitig versuchen sie, Athen von Brüssel aus zu lenken, statuieren damit ein Exempel europäischer Wirtschaftspolitik nach obrigkeitsstaatlichen Prinzipien. Zwischen diesen Extremen zerreiben sie das letzte Quantum europäischer Identität, so es sie je in den Herzen der Bürger gegeben hat.

Notlüge der ersten Stunde rächt sich

Was sich nun rächt, ist die Notlüge der ersten Stunde, niemand müsse für den andern einstehen. Die Deutschen hätten es wissen können. Die Einführung der D-Mark in Ostdeutschland hatte ihren Preis, die Aufbauhilfe ist noch heute nicht beendet. Eine Währungsunion aus souveränen Nationalstaaten und ohne gemeinsame Finanzpolitik ist noch weit schwieriger. Sie kann nur funktionieren, wenn sich alle zumindest an die gleichen Stabilitäts-Regeln halten. Gelingt das nicht, muss es die Möglichkeit geben, die Union auch wieder zu verlassen, sprich: die Griechen aus dem Euro zu werfen.

Weil auch das gravierende Folgen haben könnte, etwa einen Kollaps erst griechischer und dann weiterer europäischer Banken, behauptet die Politik, es gebe eine dritte Möglichkeit: So weiterzumachen wie bisher. Neue Kredite, noch stärkere Auflagen – und irgendwann erholt sich Griechenland schon wieder. Dabei ist das längst genau jene Transferunion, die ja angeblich niemand will. Geld gegen Reformen – größer kann gegenseitige Abhängigkeit kaum sein.

Fass ohne Boden

Die Griechen sind nicht undankbar, sondern sie stehen aus ihrer Sicht zu Recht gegen ihre ferngesteuerte Regierung auf. Die einfache Bevölkerung hat wenig vom Euro profitiert, soll aber jetzt am meisten unter den Reformen leiden. Und mit jedem weiteren Notkredit wird es für sie schlimmer. So kann die griechische Staatskrise nur zur Tragödie werden. Und für alle anderen zum Fass ohne Boden.

Im Bundestag wetteiferten unlängst Politiker darum, wer der überzeugteste Europäer sei. Wie aber Europa in Zukunft aussehen soll, wusste niemand zu sagen. Irgendjemand wird aber den Bürgern sagen müssen, was wird.

Was also wollen wir? Die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“, wie sie Jürgen Habermas aus der deutschen Verfassung auf ganz Europa übertragen möchte? Die meisten Deutschen würden sie wohl bejahen, aber die nächste Frage verneinen, ob sie auch für einen griechischen Marshall-Plan zahlen würden? Man wird sie nicht fragen. Demokratie ist hinderlich für die neue Europäische Transferunion. Dabei ließe sich ein Aufbauprogramm viel besser begründen als jedes Sparpaket: Es weist in die Zukunft.