Beschneidung bringt Kinderärzte in Gewissenskonflikte
Die Beschneidung bringt Ärzte in die Bredouille: Sollen sie eine überflüssige und schmerzhafte Operation ausführen – oder das Feld Laien überlassen?
Essen.
Önder Özgeday kann sich noch an den Tag seiner Beschneidung erinnern: „Ich war ja schon zehn Jahre alt, das ist eigentlich recht spät.“ Er erinnert sich an die Schmerzen und vor allem an die doppelte Scham: Sich vor der Familie entblößen zu müssen und vor Fremden einen Eingriff in seine Intimsphäre zu erdulden.
Doch er erinnert sich auch an den Stolz: An Geldgeschenke mit denen er behängt wurde, kostümiert wie ein kleiner Pascha. Er hatte sich bewährt, war ein ganzer Kerl. So jedenfalls will es der Initiationsritus. Özgeday jedoch schämt sich heute wieder: Dass er damals nicht weggelaufen ist, nicht protestiert hat, nicht mutiger gewesen ist.
Selbsthilfegruppe kämpft gegen Beschneidung
Was ihm bleibt: Der Beschluss, dass sein eigener Sohn, knapp 18 Monate alt, auf keinen Fall beschnitten wird. Und der Einsatz bei einer Selbsthilfegruppe, in der er darum kämpft, dass die Beschneidung aufhört. Ein Kampf gegen die ganze Welt. Denn die Beschneidung von Jungen ist die häufigste und älteste Operation – und vermutlich auch die Überflüssigste. Davon jedenfalls sind die Mediziner hierzulande überzeugt.
Jeder dritte mann ist unten ohneJedoch: Sie ist erlaubt. Das stürzt die Kinderärzte und Kinderchirurgen in ein Dilemma. Zwar urteilte 2012 das Landgericht Köln, dass die Beschneidung rechtswidrig sei, jedoch hat der Bundestag kurz darauf, nachdem sowohl jüdische wie auch muslimische Verbände intervenierten, einen neuen Paragrafen geschaffen. Er erlaubt die Beschneidung von Jungen, „wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt“ wird. So heißt es jetzt im Bürgerlichen Gesetzbuch unter §1631d „Beschneidung des männlichen Kindes“.
Um Juden die traditionelle Beschneidung am achten Tag nach der Geburt zu ermöglichen, dürfen auch besonders ausgebildete Nicht-Ärzte die Beschneidung an höchstens sechs Monate alten Knaben vornehmen. Vier jüdische Mohel gibt es in Deutschland, das übrigens eines von einer Handvoll Ländern ist, dass die Beschneidung überhaupt gesetzlich regelt.
Indes: Das Essener Elisabeth-Krankenhaus hat beschlossen: Wir machen keine Beschneidungen mehr. Immerhin drei Viertel der Eltern, so schätzt der Leiter der Kinderchirurgie, Dr. Peter Liedgens, bringt er zum Nachdenken, ein Viertel verzichtet nach der Aufklärung bereits auf den Eingriff, schätzt er. Die Folge: Kamen im ersten Quartal 2014 noch 70 Jungen unters Messer so waren es in den ersten drei Monaten diesen Jahres nur elf. Und bei denen war die OP medizinisch geboten. Die Position der Klinik wird von Juristen gestützt: Jede Operation, die nicht medizinisch notwendig ist, bedeutet einen Verstoß gegen das grundgesetzlich garantierte Recht auf körperliche Unversehrtheit.
Auf der anderen juristischen Waagschale liegen das Recht auf freie Religionsausübung und das Recht der Eltern, über die Erziehung ihres Kindes entscheiden zu können. Eine Situation, die niedergelassene Kinder- und Jugendärzte fast täglich vor ein Dilemma stellt. Mehr oder weniger offen fragen muslimische Eltern, wo sie ihren Sohn beschneiden lassen sollen. Gibt der Kinderarzt keinen Tipp, so der langjährige Obmann der Essener Kinder- und Jugendärzte, Dr. Engelbert Kölker, lautet die Antwort: „Dann müssen wir ja doch zum Bekannten in den Hinterhof gehen.“
„Berührt das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit“
Genau dort haben Kinder- und Jugendchirurgen in den vergangenen Jahrzehnten die Operationen herausgeholt – um die Risiken zu reduzieren. Ein niedergelassener Kinderchirurg erklärt: „Besser ich mache es unter optimaler Betreuung mit eigenem Anästhesisten und mit optimaler Nachsorge als dass ich nachher die verstümmelten Penisse reparieren muss, die jemand auf dem Küchentisch verpfuscht hat.“
Die Stellungnahmen der Verbände von Pro Familia über die Kinder- und Jugendärzte sind eindeutig. Die Beschneidung „ist ein schwerwiegender Eingriff mit irreversiblen Auswirkungen und berührt das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit“, sagt Renate Bernhard von Pro Familia NRW. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte hebt hervor, dass selbst bei einer Vorhautverengung die „Beschneidung immer die letzte, da für den Jungen gravierendste und im wahrsten Sinne des Wortes einschneidenste Behandlung“ sei.
Mittlerweile gibt es jedoch ein Hilfsargument: die psychische Belastung. Ein nicht beschnittener Junge wird sich zwischen beschnittenen Altersgenossen beispielsweise im Sportverein unwohl fühlen, argumentiert eine Urologin auf einem Essener Symposium.
Für Önder Özgeday ist so etwas der Ansporn, dafür zu sorgen, dass kein nicht beschnittener Junge allein dasteht. Seinen Eltern macht er heute keine Vorwürfe mehr, auch wenn der Konflikt zwischenzeitlich groß war. Die jungen Großeltern haben mittlerweile akzeptiert, dass der Enkelsohn nicht beschnitten werden wird. Ein kleiner Schritt zur allmählichen Abschaffnung des kleinen Schnitts, der so großes Leid hervorruft.