Helena Kilian-Steinhaus gründete den Verein „Sanktionsfrei“. Sie engagiert sich für die Rechte von Hartz-4-Empfängern. Im Interview mit unserer Redaktion macht die Aktivistin klar, warum sie Sanktionen gegen Arbeitslose für rechtswidrig hält, wie sehr die Leistungsempfänger stigmatisiert werden und wieso die Jobcenter anders formulierte Briefe verschicken sollten.
Kilian-Steinhaus prangert im Gespräch das Machtungleichgewicht an, das vor allem auch in der Kommunikation der Jobcenter mit den Empfängern von Hartz 4 deutlich wird.
Warum hilft Ihr Verein „Sanktionsfrei“ Menschen, die von Jobcentern abgestraft werden?
Helena Kilian-Steinhaus: „Sanktionsfrei“ vertritt grundsätzlich die Position, dass jede Sanktion rechtswidrig und anfechtbar ist. Das klingt für manche vielleicht nicht nachvollziehbar, aber wir gehen davon aus, dass Hartz 4 das Existenzminimum ist. Das Minimum hat ja schon an sich, dass es die kleinste Größe ist. Man muss daher bei Fehlverhalten an einer anderen Stelle ansetzen, nicht bei finanziellen Kürzungen.
Welchen Ansatz könnten Sie sich stattdessen vorstellen?
Kilian-Steinhaus: Die Sanktionen werden eingesetzt unter der Annahme, dass sie zur Arbeitsaufnahme motivieren. Sie sollen also einen Anreiz darstellen. Das Gegenteil ist der Fall! Wenn Menschen nicht erreichbar sind oder Termine versäumen, sollte man genauer auf sie eingehen. Auch in der modernen Erziehung schlägt man das Kind ja nicht mehr, sondern setzt positive Anreize. Dieser Ansatz ist mittlerweile fast überall Standard, nur nicht hier.
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Mehr über den Verein „Sanktionsfrei“
- Der Verein zahlt Hartz-4-Empfängern einen Ausgleich, wenn sie Sanktionen vom Jobcenter aufgebrummt bekommen.
- Die Betroffenen gehen dann rechtlich gegen das Jobcenter vor.
- Wenn sie sich durchsetzen, zahlen sie das vorgestreckte Geld wieder in den Solidartopf von Sanktionsfrei zurück. Die Erfolgsquote liegt laut eigenen Angaben bei 90 Prozent.
- Der Solidartopf wird über Spenden finanziert. Bisher wurden über 200.000 Euro ausgezahlt.
- Ziel des Vereins ist es, alle, die auf staatliche Hilfe angewiesen sind, „garantiert und angstfrei“ abzusichern.
- Mehr Infos: sanktionsfrei.de
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Laut einer Civey-Umfrage für die Thüringer Allgemeine sagten 56 Prozent der Befragten, dass Sanktionen für junge Hartz-4-Empfänger unter 25 Jahren sogar eher verschärft werden sollten. Würden Sie differenzieren zwischen älteren Arbeitslosen, die 30 Jahren gearbeitet haben und jahrzehntelang in die Sozialversicherungen eingezahlt haben – und eben jungen Leuten, die nach der Schule nicht „in die Spur“ finden?
Kilian-Steinhaus: Da würde ich nicht differenzieren. Wenn junge Menschen in Hartz 4 sind, gehen sie leider häufig auf eine Art verloren, fallen ganz aus dem System raus. Je mehr Stress sie mit den Sachbearbeitern haben, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie auf einem guten Weg wieder herausfinden. Dann hat man eine Investition in die Zukunft verloren. Außerdem kann die Argumentation nicht sein, dass man jeden Schrottjob machen muss, nur weil man jung ist!
Es besteht das Vorurteil in unserer Gesellschaft, dass Menschen die ALG 2 beziehen, Jobs einfach kategorisch ablehnen und dass sie genug Geld kriegen, um entspannt und ohne Bestrebungen zu leben. Das ist die absolute Minderheit, aber dafür muss die Mehrheit bluten. Dieses Stigma lastet auf diesen Menschen und da ist es egal, ob sie älter als 25 sind oder jünger. Das ist eine Erzählung, die aufrechterhalten wird, und in die keine anderen Perspektiven einfließen.
Seit 2005 hat sich die offizielle Arbeitslosenquote mehr als halbiert. Zumindest vor Corona gab es doch ein viel breiteres Angebot an freien Arbeitsstellen, also auch zumutbaren Jobs? Sehen Sie da einen Unterschied zwischen damals, als Hartz 4 eingeführt wurde, und heute?
Kilian-Steinhaus: Es gibt keine eindeutigen Belege dafür, dass die Agenda 2010 verantwortlich ist für diesen Rückgang. Was aber belegt ist: Durch die Agenda 2010 ist der Niedriglohnsektor extrem ausgebaut worden. Es gibt weitaus mehr Zeitarbeit und die Job-Bedingungen sind wahnsinnig schlecht geworden. Die Leute sind durch Hartz 4 gezwungen, diese Jobs anzunehmen.
Beim Jobcenter in Recklinghausen wurde jüngst eine Befragung durchgeführt. Auch wenn sie nicht repräsentativ war, ist das Ergebnis interessant: 46 Prozent der Hartz-4-Bezieher fanden, dass man Sanktionen nicht abschaffen sollte, 37 Prozent waren dafür, die restlichen unentschlossen. Wie erklären Sie sich, dass selbst viele Arbeitslose das Prinzip der Sanktionen scheinbar nicht ablehnen?
Kilian-Steinhaus: Auch Menschen, die Hartz 4 beziehen, gegen davon aus, dass es ganz viele gibt, die das System ausnutzen und auf jeden Fall in letzter Konsequenz eine Strafe brauchen. Dieses Stigma lastet auch auf der Gruppe selbst. Aber vermutlich nimmt sich der Einzelne selbst da heraus und sagt: ich suche einen Job, ich mache ja, was ich kann. Es gibt auch das Phänomen, dass selbst Kinder, die geschlagen werden, sagen, dass sie das auch manchmal verdient hätten. Es kommt darauf an, was man für ein Mindset eingeprägt gekriegt hat.
Sind Sie enttäuscht, dass im bisherigen Bundestagswahlkampf das Thema Hartz 4 fast keine Rolle spielt?
Kilian-Steinhaus: Ich wäre enttäuscht, wenn ich da noch so viele Ansprüche hätte. Ich bin grundsätzlich enttäuscht, wie stark das Thema vernachlässigt wird, auch in Zeiten von Corona. Ich wäre überrascht, wenn es stärker im Wahlkampf präsent wäre.
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Viele Parteien fordern in ihren Programmen, die Hinzuverdienstmöglichkeiten von Hartz-4-Beziehern zu verbessern? Ist das aus Ihrer Sicht ein guter Ansatz? Oder bleiben die Menschen dann noch mehr im System stecken?
Kilian-Steinhaus: Das ist ein wichtiger und richtiger Ansatz. Bisher dürfen nur 100 Euro hinzuverdient werden. So ist es aber schwierig, sich herauszuarbeiten. Mit den 100 Euro stopft man als Hartz-4-Empfänger die ganze Zeit nur Löcher, damit hat man keinen zusätzlichen Spielraum. Es braucht tatsächlich Geld, damit Menschen sich eine Situation schaffen können, aus der heraus sie sagen: jetzt schaffe ich den Absprung.
Was sollte eine neue Bundesregierung im Bereich Hartz 4 angehen?
Kilian-Steinhaus: Meine Forderung ist, dass der Regelsatz erheblich angehoben wird, das die Hinzuverdienstgrenze nach oben gesetzt wird und das die Kosten der Unterkunft grundsätzlich übernommen werden.
Zudem müssten Schreiben, die vom Jobcenter rausgehen, eine andere Form annehmen. Zur Zeit beinhaltet jedes Schreiben Sanktionsandrohungen und Paragrafen, die die Kommunikation für die – wie man sie nennt – Kundinnen und Kunden extrem unerfreulich machen und auch Stress verursachen. Die Kommunikation muss ganz stark verändert werden! Dass man sich nicht die ganze Zeit wie ein Schuldiger fühlt.
Das ist ja eigentlich nur ein kleines Rädchen, an dem man drehen müsste.
Kilian-Steinhaus: Es ist gar nicht so ein kleines Rädchen. Dieses ganze Jobcenter, dorthin zu gehen, damit in Kontakt zu sein, das hat ganz viel mit Gefühlen zu tun. Und das Gefühl, das permanent vermittelt wird, ist negativ ohne Ende. Man versteht nicht, was die Leute von einem wollen. Ich bin mir ganz sicher, dass sich so vieles zum Positiven verändern könnte, wenn nicht von vornherein diese extreme Machtungleichheit ausgedrückt werden würde. Die Betroffenen fühlen sich entmündigt, sie haben das Gefühl, sie wissen nicht was passiert. Das ist wirklich ein eklatantes Problem!
Würden Sie das vor allem auf die Schreiben beziehen oder auch auf die Vermittlungs- und Beratungsgespräche?
Kilian-Steinhaus: Ich kann natürlich nicht sagen, wie die einzelnen Sachbearbeitenden in den Gesprächen ihren Job machen. Ich will gar nicht allen vorwerfen, dass sie das schlecht machen. Das wird nicht so sein. Aber was immer der Fall ist, ist dass die Macht bei den Sachbearbeitenden akkumuliert ist. Der Kunde oder die Kundin hat bei diesem Ungleichgewicht keinen Handlungsspielraum mehr. Dieses systeminhärente Machtungleichgewicht ist das Problem. Sobald die Beziehung nicht stimmt, ist die ganze Macht auf der einen Seite – und die hat ja nicht immer recht.
Das Interview führte Marcel Görmann