Das Ruhrgebiet debattiert über Lebenslügen. Doch aus den Schulden kommt es nur mit einer Steuerreform oder der Übernahme von Wohnkosten. Eine Analyse
Essen.
Wer lässt sich schon gern eine Lebenslüge nachsagen? Also erntet Bundestagspräsident Norbert Lammert Empörung und Unverständnis. Er meint, es sei reichlich Geld ins Revier geflossen, was er damit andeutet: es muss endlich raus aus seiner Opferrolle. Sind also die Oberbürgermeister, die unlängst gen Berlin fuhren, um mehr Unterstützung einzufordern, elende Bittsteller, die mal besser den eigenen Hintern hochkriegen sollten statt die Hand aufzuhalten? Sind ihre Kirchtürme im Kopf Schuld an der Finanzmisere der Städte?
Viel schöner Stoff für politische Debatten – die leider den Kern des Problems nicht lösen. Denn ja, die Politiker in den Revierstädten haben unfassbar viele Fehler gemacht, in der älteren (mangelnder Sparwille, Cross-Border-Leasing, Zinswetten) wie der jüngeren Vergangenheit (Franken-Desaster). Und ja, es sind reichlich Gelder tief in den Westen geflossen und noch tiefer versickert. Nur bringen diese Erkenntnisse von gestern beim Blick nach vorn niemanden an der Ruhr weiter. Denn nein: Selbst wenn alle Oberbürgermister im Ruhrgebiet ab morgen alles richtig machen würden, hätten sie keine Chance, sich am eigenen Schopfe aus dem Abwärtssog zu befreien – davor steht die Schwerkraft des kleinen Einmaleins.
Sozialausgaben nicht kontrollierbar
Ohne Hilfe wird das Revier es nicht schaffen. Aber es braucht keine Almosen, sondern schlicht die Chance, seine strukturbedingt verfestigt hohen Ausgaben ohne neue Schulden bezahlen zu können. Dafür braucht es keine Lex Ruhrgebiet, sondern eine grundlegende Neuordnung der Kommunalfinanzen, die viele Bundesregierungen versprochen, aber nie gehalten haben.
Das Problem: Die meisten Kommunen der Republik haben keinen Grund, etwas ändern zu wollen. Unterm Strich erwirtschaften die Gemeinden seit 2012 Überschüsse. Auch Großstädte haben Schulden abgebaut, vor allem im Süden und Osten der Republik. Gleichzeitig ging’s im Ruhrgebiet weiter bergab, trotz niedriger Zinsen und guter Konjunktur steigen die Schuldenberge wie einst die Kohlehalden. Mit Oberhausen, Mülheim und Hagen liegen drei Revierstädte in den Top fünf der Großstädte mit der höchsten Pro-Kopf-Verschuldung.
Langzeitarbeitslosigkeit wird zum Finanz-Fass ohne Boden
Die hohen Sozialausgaben, vor allem für Langzeitarbeitslose, lassen sich nicht bremsen. Drei von vier Arbeitslosen beziehen im Ruhrgebiet Hartz IV, ihre Wohnkosten steigen und zehren einen immer größeren Teil der Städteetats auf. Die Folgen: Um ihre Einnahmen zu steigern, müssen die Kämmerer Steuern auf Gewerbe und Grundbesitz erhöhen. Weil aber höhere Steuersätze nicht zwangsläufig die Einnahmen erhöhen, weil sie Firmen und Hausbesitzer eher abschrecken als anziehen, müssen sie immer neue Kassenkredite aufnehmen. Es fehlt Geld für Investitionen in die Infrastruktur, soziale und Freizeiteinrichtungen. Dieser Abwärtsspirale kann sich kaum ein Revierkämmerer entziehen. Es gibt sie auch anderswo in Deutschland, in Berlin, Bremen, dem Saarland. Aber nirgends so geballt wie im Revier.
Daran haben selbst Ökonomen, die Wettbewerb und Eigenverantwortung predigen, keinen Zweifel mehr. Hans-Peter Busson etwa von der Beratungsfirma Ernst & Young analysierte in seiner jüngsten Kommunal-Studie: „Hoch verschuldete Städte in strukturschwachen Regionen können derzeit kaum von den steigenden Steuereinnahmen profitieren. Ihre Schulden steigen und steigen – und sie können relativ wenig dagegen unternehmen.“ Das gelte vor allem für das Ruhrgebiet. Und: „Es wäre naiv zu glauben, dass die hoch verschuldeten Ruhrgebietsstädte ihre Finanzen aus eigener Kraft in Ordnung bringen können – sie benötigen Hilfe“.
Die Fehler der Vergangenheit
Ob das Ruhrgebiet Mitschuld an seiner prekären Finanzlage trägt, wie Lammert befindet, steht außer Frage. Anfang der 90er-Jahre hatten Städte wie Essen, Duisburg und Dortmund deutlich niedrige Pro-Kopf-Verschuldung als etwa Köln oder Düsseldorf. Die schon damals alles andere als gute, aber im Vergleich mit anderen Städten nicht gar so schlechte Finanzlage reservierte Sparappelle für fromme Reden, in den Räten, Fachbereichen und in jeder einzelnen Bezirksvertretung wurde der Etat bis zum letzten Euro ausgereizt – um nur ja nicht im nächsten Jahr weniger zu bekommen. Nicht wenige verkehrsberuhigende Buckel wurden kurz vor Jahresende durchgewunken. Das Geld musste raus. Dass der Spardruck 20 Jahre später umso brutaler werden würde, konnte man ahnen.
Natürlich sind Abermillionen an Fördergeldern ins Revier geflossen. In den Strukturwandel, in Industriebrachen etwa, die zum Kulturgut wurden. Essen hat seine Zeche Zollverein, Duisburg seinen Landschaftspark Nord und das nördliche Revier seine Emscherregion enorm aufgehübscht. Diese Leuchttürme sind wichtig fürs Lebensgefühl, am Schuldenproblem ändern sie nichts. Das meiste Geld diente freilich der Abfederung von Strukturbrüchen wie dem Ende des Bergbaus – also nicht dem Aufbau neuer Strukturen. Nur: Wer hätte die Alternative – Massenentlassungen – verantworten wollen? Der Wandel hätte besser koordiniert werden können, noch heute pflegt jede Stadt ihre eigene Wirtschaftsförderung, kämpft für sich selbst. Die Lobby des Reviers haben seine Protagonisten so sicher nicht gestärkt. Den richtigen Zeitpunkt, Tafelsilber wie die RWE-Aktien zu verkaufen, haben die Städte auch verpasst. Und nun? Es leben noch fünf Millionen Menschen hier und der Staat hat die Pflicht zur Daseinsfürsorge.
Neuaufteilung der Steuereinnahmen
Es gibt nur zwei Auswege aus der Abwärtsspirale: Entweder entlastet der Bund die Städte bei den Wohnkosten, wie es Ernst & Young vorschlägt, oder er sorgt für neue Einnahmen. Vorschläge dafür gibt es ja. Die Gewerbesteuern sind bisher die wichtigste und zugleich unzuverlässigste Einnahmequelle der Städte. Den Wettbewerb um niedrige Sätze hat das Ruhrgebiet verloren. Ein „selbst Schuld“ konserviert nur die Misere. Tiefer gehender wäre es zu fragen, ob die Steuern wirklich gerecht zwischen Bund, Ländern und Kommunen verteilt werden. Wer meint, die Kommunen leisteten die wichtigsten Dienste am Bürger, müsste das verneinen.
Von der größten und verlässlichsten Einnahmequelle des Staates, der Mehrwertsteuer, erhalten die Kommunen aber nur zwei Prozent, aus der Einkommensteuer 15 Prozent. Diese Steuern sprudeln, ein höherer Anteil könnte die Kommunalfinanzen auf eine weit stabilere Basis stellen. Im Gegenzug müssten Gemeindesteuern zum Teil Bund und Ländern zugeschlagen werden. Sie steigen insgesamt ebenfalls, allerdings nicht überall. Das trifft schwache Kommunen, wäre Bund und Ländern aber egal, solange die Summe unterm Strich stimmt.
Die sozialistische FDP-Idee
Da die meisten Kommunen mit dem aktuellen System gut leben, lehnen sie das ab. Ihr Hauptargument: Wenn die Kommunen ihre Einnahmen kaum mehr selbst steuern können, erlahmt der Wettbewerb, werden Kämmerer zu Statisten. Viele Kämmerer im Revier sind freilich heute schon von den Bezirksregierungen fremdbestimmt. Und wer eine Mehrwertsteuer-basierte Städtefinanzierung wettbewerbsfeindliche Gleichmacherei nennt, der sei an den Urheber dieser Idee erinnert: die des sozialistischen Gedankenguts eher unverdächtige FDP.
Die große Reform bleibt bisher im Interessengeflecht zwischen Bund, Ländern sowie klammen und gesunden Kommunen stecken. Doch solange die Politik sie nicht angeht, bleiben Debatten über kurzfristige Finanzhilfen vom Bund, den Soli und den Abriss von Kirchtürmen Stückwerk. All dies kann und sollte getan werden, aber es wird nicht reichen. Wer meint, das Ruhrgebiet auf diese Weise aus dem Schuldensumpf ziehen zu können, verbreitet nur eine neue Lebenslüge.