Haniel hat in hunderten Häusern mangelhaften Kalksandstein verbaut. Die Folge: Die Häuser sind porös und einsturzgefährdet, sie müssen aufwändig renoviert werden. Von 1987 bis 1996 wurden die Steine verwendet. Viele betroffene Kunden fürchten um ihre Häuser – und damit um ihre Altersvorsorge.
Duisburg.
Feiner, weißer Staub. Wie das Pulver in der Hand von Harald van de Sand, so sieht eine zerbröselte Altersvorsorge aus. Der 57-Jährige steht in seinem Dreifamilienhaus am Espenweg in Duisburg. 1996 hat er es gekauft, für 860 000 DM. Heute fragt er sich, „wie lange das Haus noch hält“.
„Gute Rohstoffe sind die Basis des Erfolges.“ Dieser Satz steht auf der Internet-Homepage der Firma Xella. Zu Haniel-Zeiten lautete die Losung: lieber günstig als gut. Von 1987 bis 1996 stellte das Unternehmen fehlerhafte Kalksandsteine her – und kassierte doppelt. Teurer Kalk wurde durch ein schwefelhaltiges Abfallprodukt aus der Rauchgasentschwefelung ersetzt. 17 DM pro Tonne zahlten Kraftwerksbetreiber für den Müll. Haniel nahm 40 000 Tonnen pro Jahr.
Abfallprodukt verwertet
Der Haken an dem Kalkersatz: Er verträgt keine Nässe. Das erfuhr eine Mieterin am Espenweg. Nachdem Wasser aus der Fußbodenheizung gelaufen war, zersetzten sich Wände. Heute sieht es im Bad aus wie anderswo nach einer Dürrekatastrophe: überall Risse. Sie durchziehen Boden- und Wandfliesen, zerstören Fugen. Die Badewanne ist abgesackt. Die Wohnungstür schließt nicht mehr. Die Statik droht zu kippen. „Das Haus reißt mittendurch“, fürchtet Harald van de Sand.
Dass die Billigzutat Feuchtigkeit nicht standhalten würde, war früh klar. Doch es wurde verschwiegen. Der Bundesverband der Kalksandsteinindustrie warnte schon 1987. Es handele sich nur „um gipsähnliche Stoffe bzw. Gips“, der Stein bleibe nicht fest. Haniel kümmerte sich nicht darum. „Bedenken des Bundesverbandes wurden negiert“, bestätigt Xella in einer internen Notiz, die der WAZ vorliegt.
Mindestens 300 Millionen der Gipssteine seien hergestellt worden, berechnete ein ehemaliger leitender Haniel-Mitarbeiter. Die Steine seien „über Baustoffhändler an Bauträger, Bauunternehmer und Bauherren“ gegangen, teilt Xella offiziell mit. Über Details sei man nicht im Bilde. Nur darüber, dass es bisher 370 Steinfraß-Häuser gebe. Wie viele Bröselsteine wohin gingen, in welchen Objekten sie stecken, welche Lasten sie dort tragen – sorry, es gebe keine Unterlagen mehr.
Doch es gibt Unterlagen, und sie liegen der WAZ vor. Intern notierte Haniel schon im April 2000: „Um Kosten zu sparen“, seien „150 bis 200 Millionen“ Billigsteine produziert worden. Und: „Unter ungünstigen Bedingungen können Schäden auftreten.“
Experte: „Haniel hat mindestens fahrlässig gehandelt“
Die von Xella gestellte „Frage einer etwaigen Produkthaftung“ beantwortete Jurist Jürgen Witte. „Die Kalksandsteine sind fehlerhaft“, der Verkauf „trotz der Warnhinweise war mindestens fahrlässig“, steht in seinem Gutachten von 2006. „Eine Eigentumsverletzung“ sei „nicht ausgeschlossen“, „eine Verjährung der Ansprüche“ könne Haniel „nur schwerlich nachweisen“. „Haftung wegen sittenwidriger Schädigung“: „sehr naheliegend“. Haniel habe „durch das Nicht-Tätigwerden“ nicht nur „Warnpflichten verletzt“ – „der Verstoß gegen die Warnpflicht dauert noch an“. Für den Anwalt „liegt der Rückschluss auf einen bedingten Vorsatz nahe“. Gutachter Prof. Horst Bossenmayer bemängelte 2007 klare Verstöße gegen Vorschriften der Musterbauordnung. „Ein Gefahrenverdacht“ dränge sich „selbst Laien auf“. Er rechne nicht mit plötzlichen Einstürzen, sondern „stets mit einem Versagen mit Vorankündigung“. Xella will „unabhängige Gutachten“ besitzen, die „bestätigen, dass keinerlei Gefahr für die Hausbewohner besteht“. Auf Nachfrage der WAZ wurde kein Gutachten ausgehändigt. „Bei allen bisher bekannten Fällen bestand zu keiner Zeit die Gefahr eines zum Einsturz des Gebäudes führenden Tragfähigkeitsverlustes der Steine“, sagte ein Sprecher. Legt man die Produktionszahlen zugrunde, könnten die Steine in 20 000 bis 40 000 Objekten stecken.
Haniel und Xella ließen nicht nur Betroffene im Dunkeln, sie führten auch den Versicherer HDI hinters Licht. Risse und Steinfraß wurden jahrelang „mit unterschiedlicher Schadensursache (Härtungsfehler, Abplatzer bzw. Kavernenbildung durch nachreagierenden Kalk, Rezepturfehler o.ä.) gemeldet“, verrät ein interner Xella-Bericht. HDI habe zuverlässig gezahlt. Erst als Ende der 1990er-Jahre die Schadensfälle und -höhen stiegen, „wurde der Versicherung reiner Wein eingeschenkt“. Später zahlte Haniel Schäden unter 10 000 DM selbst. Höhere Beträge drückte man weiter dem HDI aufs Auge. Der will „diesen Fall nicht kommentieren“.
Das wahre Ausmaß des Skandals ist noch unklar. Die Firma Küppers Living könnte dazu einiges sagen. Unter dem Namen Küppersbau hat sie in Duisburg, Moers und Krefeld eine Siedlung nach der anderen mit den Billigsteinen hochgezogen. Xella ahnt, dass der Steinfraß nur schläft und „noch einige Einfamilienhäuser ihrer Entdeckung entgegenschlummern“. Doch die Küppers Living-Gesellschafter Jochen und Jörg Weitzel bleiben stumm. Man hat sich offenbar geeinigt. Für „einige Privatimmobilien der Familie Weitzel“ kannte Xella schon 2007 den „Verkaufswunsch“. Jetzt bestätigt Xella den „in Einzelfällen getätigten Ankauf einzelner Häuser“, will aber nicht ins Detail gehen.
Schwimmbad betroffen
„In welchen Bundesländern außer NRW die Steine noch verwendet wurden“, diese Frage von Gutachter Bossenmayer bleibt offen. Längst nagt der Steinfraß auch an öffentlichen Mauern. 2008 bröckelte es im Kaldenkirchener Nette-Bad. Ende der 1990er-Jahre war der Umkleidetrakt modernisiert worden. „Plötzlich fingen Pfeiler und Wände an zu zerbröseln“, erinnert sich Schwimmmeister Thomas Lamers. Dann sei „der nette Herr von Xella“ gekommen und habe alles „anstandslos sanieren“ lassen. „Eine schlechte Charge Steine“ sei schuld, sagte er.
Kürzlich bröselte es im Krefelder Cargill-Werk. Eine Mauer im Wasserstofflager schwächelt. Sie schirmt Wasserstoffbehälter ab. Wer sie gebaut hat, sagt Cargill nicht. Xella bestätigt den Schaden und erklärt ihn so: „Hier sind Kalksandsteine anscheinend nicht bestimmungsgemäß (ungeschützt draußen) in einer Außenwand verbaut worden.“