Daran, ob es den Menschen gut geht in Deutschland oder nicht, hat die Politik ihren Anteil. Messen lässt sich das nicht – aber einen vielleicht noch größeren Anteil
daran
haben die Menschen selbst und ihre Arbeitgeber. Und da deren Interessen nicht immer übereinstimmen, sind auch Gewerkschaften und Unternehmer eher Gegenpole als wirklich dicke „Tarifpartner“. In diesen Wahlkampfwochen aber sind sie sich einig wie selten, dass die Politik einen großen Fehler begeht. Beide sind davon überzeugt, dass es den Menschen in Deutschland durch Europa besser und nicht schlechter geht. Entsprechend erschüttert sind Gewerkschaften wie Arbeitgeber darüber, dass die Parteien im Europawahlkampf so ziemlich das Gegenteil an die Wände plakatieren.
Die Parteien liefern sich derzeit eher eine Meinungsschlacht gegen als für Europa. Es geht gegen „Fremdbestimmung“, „Eurokraten“, Zuwanderung und gegen den Euro. Stimmung gegen Brüssel machen dabei keinesfalls nur kleine, radikale Parteien, sondern auch die großen. Die SPD verpackt dies noch am nettesten, wenn sie auf ihren Plakaten „Ein Europa der Demokratie, nicht der Bevormundung“ fordert. Der Koalitionspartner von der CSU ist da weniger zimperlich und warnt vor Armutszuwanderung: „Wer ungerechtfertigt Sozialleistungen abruft, soll Deutschland verlassen und darf nicht wieder einreisen“, lautet die leichte Abwandlung ihres alten Spruchs „Wer betrügt, der fliegt“.
„Unsägliches populistisches Rumschwadronieren“ nennt das Reiner Hoffmann, der im Mai Michael Sommer als Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes ablösen soll. „Immer wieder wurden Ängste vor einer großen Einwanderungswelle geschürt, die den Deutschen angeblich die Arbeitsplätze wegnehmen, doch die große Welle ist nie gekommen“, sagte er der „Welt am Sonntag“. Die Wirtschaft wünscht sich ohnehin mehr statt weniger Zuwanderung von Fachkräften – und es sind überwiegend Fachkräfte, die zurzeit aus EU-Ländern zum Arbeiten nach Deutschland ziehen. „Anti-EU-Populismus stellt große Errungenschaften in Frage“, betont Ulrich Grillo, Präsident des Bundesverbands der deutschen Industrie (BDI).
In der 20-seitigen Broschüre zur Europawahl, die der BDI mit dem Arbeitgeberverband BDA veröffentlicht hat, steht nicht ohne Grund auf jeder einzelnen Seite ein dickes „Wir brauchen Europa!“ samt Ausrufungszeichen. Der Binnenmarkt habe auch den Wohlstand der Bürger gesteigert – seit dem Start vor 22 Jahren um insgesamt 900 Milliarden oder auch 6000 Euro pro Familie, so die Wirtschaftsverbände.
Gerade jetzt, da die Euro-Krisenländer sich langsam zu erholen beginnen und Deutschlands Wirtschaft brummt, verstehen weder Gewerkschaften noch Arbeitgeber den selbst von Regierungsparteien so defensiv geführten Wahlkampf. „Immer wird nur dieses Bild der armen Deutschen, die für die Krisenländer der EU zahlen müssten, verbreitet – nicht aber das Bild von Deutschland als Gewinner der Währungsunion“, sagt der designierte DGB-Chef Hoffmann, und: „Wenn wir noch die D-Mark hätten, wären wir nicht Exportweltmeister.“
Hoffmann hat 15 Jahre lang in Brüssel europäische Gewerkschaftsarbeit gemacht, allein seine Wahl zum neuen DGB-Chef sieht er als ein starkes Signal der Mitgliedsgewerkschaften für Europa. Entsprechend verärgert reagiert er, wenn Parteien lieber Ängste vor „denen in Brüssel“ schüren als die Errungenschaften und künftigen Chancen zu betonen.
Industrie hofft auf Freihandelszone
Mit dem Blick nach vorn wünschen sich Arbeitgeber wie Arbeitnehmervertreter mehr statt weniger Europa, wenn auch aus verschiedenen Motiven. Der DGB hofft auf eine einheitliche Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in Europa, natürlich eher mit höheren Standards für die Beschäftigten. Der BDI dagegen setzt auf eine gemeinsame Finanz- und Energiepolitik sowie auf die derzeit verhandelte Freihandelszone der Europäer mit den USA. Gerade für die Industrie gilt laut Grillo: „Ein Rückzug in nationale Wagenburgen wäre das genaue Gegenteil von dem, was wir in Europa brauchen.“