- Lange verschollene Bewegtbilder aus Mülheim aufgetaucht
- Amateur-Filmer Fritz Witzel drehte mit seiner Kamera 1938 an einem Ort, den es so nicht mehr gibt
Mülheim.
Ein Sommertag im Jahr 1938. Planschende Kinder, ein fröhliches Picknick am Beckenrand und menschliche Pyramiden.
Die Familie um den Amateur-Filmer Fritz Witzel macht einen Ausflug ins damalige Solbad Raffelberg in Mülheim.
Vergnügen kurz vor dem Krieg
Mit seiner Kamera filmt der Essener das Freizeit-Vergnügen der Bevölkerung kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
Ein Sommertag im Jahr 1938. Seit Hitlers Machtübernahme fünf Jahre zuvor haben über 200.000 Juden das Deutsche Reich verlassen.
Sie sind geflohen: vor staatlicher Enteignung, Ausgrenzung und Diskriminierung.
Wie im Geschichtsunterricht
80 Jahre später schaue ich mir gemeinsam mit Friedhelm Witzel die Bewegtbilder aus seiner Kindheit an. „Hier, das bin ich“, sagt er und deutet auf einen Jungen beim Picknick neben dem Beckenrand. Er leckt einen Teller ab. Was Kinder so machen.
Vor meinem inneren Auge verschwimmen die Bilder mit dem Geschichtsunterricht.
Die wehenden Hakenkreuz-Fahnen erinnern an eine BBC-Dokumentation. Sie werfen ihren bedrohlichen Schatten voraus.
Fritz Witzel filmte nicht nur Ausflüge. Der Essener dokumentierte auch die Schäden des Zweiten Weltkriegs in Essen. Hier geht es zu den Aufnahmen, für die der Amateur-Filmer sein Leben riskierte.
Keine NS-Propaganda
Aus dem Kontext gerissen wirken die Bilder unbeschwert und fröhlich. Sie zeigen, wie eine Arbeiter-Familie aus dem Ruhrgebiet ihre Freizeit verbringt.
So filmte der gelernte Orthopädie-Techniker mit seiner „Cine Nizo 8“ den Badespaß im Wasser, das Picknick und eine Turneinlage junger Männer.
Es grenzt an ein Wunder, dass Fritz Witzels Film-Archiv wieder im Besitz der Familie ist. Die gesamte Geschichte über den Verlust und den Fund der Filmrollen nach über 40 Jahren kannst du hier nachlesen.
Dazu hielt er die Linse auf ein Schild mit der Aufschrift „Das Baden ist nur im Badeanzug oder Badehose mit Beinansatz gestattet.“
Als hätte der Amateur-Filmer gewusst, wie absurd diese Anordnung Jahrzehnte später wirken würde.
Was Vater Fritz da aufnahm, war die Realität, an die sich die Familie später erinnern sollte. Die Film-Aufnahmen zeigen den Alltag einer normalen Familie im düstersten Kapitel der deutschen Geschichte.
Bilder des Holocaust vor dem inneren Auge
Für Friedhelm Witzel sind es warme Erinnerungen. Auch ich muss an manchen Stellen schmunzeln. Das Schild, das Kinderglück.
Doch dann weht wieder eine Hakenkreuz-Fahne im Hintergrund. Die turnenden Männer erinnern an die Hitler-Jugend.
Es ist unmöglich, zu verdrängen, dass wenige Monate nach diesen Aufnahmen die ersten Juden bei den November-Pogromen starben.
Der Holocaust wird folgen. Das ist die traurige Zukunft der Geschichte der Bilder eines Sommertags im Jahr 1938 in Mülheim.
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