Bei „Religion in Kinder- und Jugendliteratur“ liest Charlotte Kerner aus ihren Büchern und fragt, wie Moral und Wissenschaft zusammenspielen.
Weidenau.
„Wie weit darf moderne Wissenschaft gehen?“, lautet eine der zentralen Fragen im Grünen Hörsaal. Die Schriftstellerin Charlotte Kerner ist im Rahmen der Ringvorlesung „Religion in der Kinder- und Jugendliteratur“, die von der Germanistin Dr. Jana Mikota und Prof. Dr. Mirjam Zimmermann veranstaltet wird, zu Gast. In ihren Werken hat sie sich intensiv mit solchen Fragen befasst und gewährt den Studierenden einen Einblick in mehrere ihrer Romane und ihre eigenen Gedanken zu kritischen Themen wie Gentechnik und den schmalen Grat zwischen Wissenschaft und Moral.
Der Roman
„Im Namen der Mutter, der Tochter und des heiligen Gen-Geistes“ begrüßt Kerner die Studierenden mit einem Zitat aus ihrem Zukunftsroman „Blueprint“, in dem sich eine Komponistin klonen lässt, um ihr Talent auch nach ihrem Tod weiterleben zu lassen. Ist der Klon Siri nun Zwillingsschwester oder Tochter? Oder beides gleichzeitig? Kerner lotet diese Fragen aus und erzählt, warum gerade solche Themen sie bewegen. Sie stellt direkt zu Beginn klar: „Ich bin überhaupt nicht wissenschaftsfeindlich. Wissenschaft ist nicht böse oder schlecht.“ Aber die Frage nach der Moral darf nicht aus dem Blick geraten. Die Erforschung der Kernspaltung von Lise Meitner und Otto Hahn sei nichts Schlechtes. Allerdings sei die Atomphysik von Menschen missbraucht worden, indem nicht nur die Atombombe entwickelt, sondern über Hiroshima und Nagasaki auch abgeworfen wurde.
Die Wissenschaft
Vom Beispiel der Atomphysik leitet die studierte Volkswirtin und Soziologin über zu den Gefahren der Gentechnik. In beiden Forschungsrichtungen erkennt sie Parallelen. „Droht uns im 21. Jahrhundert ein genetisches Hiroshima?“ In Zeiten, in denen es theoretisch möglich ist, menschliche Klone zu erzeugen oder Designer-Babys zu gestalten, ist diese Frage tatsächlich brisant. „Wir müssen uns keine Illusionen machen: Die Schöpfung 3.0 ist im Gange.“, stellt Kerner an dieser Stelle fest. Als aufmerksame und politisch engagierte Person verfolgt sie die genetische Forschung bereits seit Jahrzehnten. Während ihrer Arbeit als Journalistin im Wissenschaftsressort der „Zeit“ kam bereits die Frage nach der außerkörperlichen Befruchtung auf. Das war Anfang bis Mitte der 1980er Jahre. 1989 hat sie dann schließlich ihren ersten Zukunftsroman geschrieben – er trägt den Titel: „Geboren 1999“. Im Buch geht es um einen Jungen, der von anonymen Spendereltern abstammt und nach seinem Ursprung sucht. „Das Recht zu wissen, woher man kommt, ist ein ganz elementares“, bemerkt Kerner, die das treffende Statement in ihrem Jugendroman aufarbeitet.
Die Wirkung
In einer Gesprächsrunde wird die Wahl-Lübeckerin gefragt, ob sie mit ihrer Schriftstellerei ein Stück weit die Welt verbessert hat. „Ja“, antwortet Kerner ohne zu zögern, „denn man bekommt ein anderes Gefühl für die Zusammenhänge.“ Auch die vielen Reaktionen, die sie in E-Mails von Lesern bekommt, zeigen, dass sich die Menschen während des Lesens ihrer Bücher weitaus intensiver mit den Themen wie Klonen befassen, als wenn sie nur eine Zeitungsmeldung lesen. Auch auf die Frage von Prof. Dr. Mirjam Zimmermann, was sie konkret von Theologen erwarte, hat sie eine Antwort parat: „Wichtige Fragen zu diskutieren wie zum Beispiel: Ist Klonen legitim?“ Im Sinne der Kirche könne das doch bejaht werden, es sei ja schließlich besser als Sex oder Samenspende.
Die Religion
Auch wenn ihre Eltern nicht religiös waren, hat sich Kerner als Jugendliche einer kirchlichen Mädchengruppe angeschlossen. „Für mich war Religion eine sehr sinnliche Erfahrung, nicht eine des Verstandes.“ Je mehr sie allerdings darüber nachdachte, an was sie eigentlich glaube, desto bewusster traf sie ihre Entscheidung, aus der Kirche auszutreten. „Es gibt einen Punkt, wo ich an etwas glauben muss, das ich nicht erklären kann und da geh ich nicht mit.“ Trotzdem hat sie sich intensiv mit Hildegard von Bingen auseinandergesetzt und ist ins Kloster gegangen, wo sie interessante Gespräche geführt hat. Dort habe sie auch über das immer wieder aufkommende Thema Klonen gesprochen. „Das Klonen spukte mir im Kopf rum.“, sagt sie dazu. Im zweiten Block der Veranstaltung nimmt Kerner noch einmal „Blueprint“ zur Hand, um einige Passagen daraus zu lesen und von der Entstehungsgeschichte zu berichten. Als sie an der Geschichte gearbeitet hat, ist das bekannte Schaf Dolly geklont worden. Zwar habe sie das schockiert, aber schließlich war beim Lesepublikum nun die Bereitschaft größer, sich auf das Thema einzulassen. Das ist eine Erklärung für den Erfolg ihres möglicherweise bislang bekanntesten Jugendromans, der unter demselben Titel von Rolf Schübel verfilmt worden ist. Es ist verblüffend und erschreckend zugleich, wie weit Kerner mit ihrer Romanen der Zeit voraus war und noch immer ist.
>>„BLUEPRINT – BLAUPAUSE“ VON CHARLOTTE KERNER IN KÜRZE
Im Roman geht es um eine erfolgreiche
Klavierspielerin
namens Iris Sellin.
Sie wird getrieben von der Angst, dass ihr Talent mit ihrem Tod stirbt und beschließt, sich klonen zu lassen.
Ihrer Tochter, die gleichzeitig ihr Klon ist, gibt sie den Namen „Siri“ – ein Anagramm ihres eigenen Namens.
Siri sieht sich in ihrer Jugend mit vielen
existenziellen Fragen
konfrontiert, als sie ihrer Mutter immer ähnlicher wird.
Es kommt zum
Streit
und Siri entscheidet sich gegen die Pläne, die ihre Mutter für sie hatte.