Ein finanzielles Horror-Szenario gewinnt für den Etat der Stadt Essen an Kontur. Auslöser ist die RWE-Aktie, die im Wert stark gesunken ist. Ein neues Gesetz schreibt bei einer dauernden Wertminderung jetzt außerplanmäßige Abschreibungen vor. Müsste die Stadt ihre RWE-Anteile abwerten, würde sie rund 564 Millionen Euro an Eigenkapital verlieren.
Essen.
Am Dienstag war doch noch alles prima: Das haben die Politiker an kleinen blauen Dreiecken ablesen können, die der Kämmerer ihnen per Projektor an die Wand werfen ließ: Die Dreiecke, sie markierten in einer ebenso schmucklosen wie beeindruckenden Grafik den angepeilten Aufschwung beim Eigenkapital der Stadt nach 2015.
Die Politik war’s zufrieden: Wir kriegen die finanzielle Kurve, so lautete die Losung, und dank historisch niedriger Zinsen sogar mit deutlich leiser quietschenden Reifen als anfänglich befürchtet. Was die Grafik nicht verriet: In kleinen Zirkeln nicht nur in Essen diskutieren die Finanzexperten eine ganz andere Datenreihe, ein regelrechtes finanzielles Horror-Szenario, das den Kurs der Stadtkasse nah an den Abgrund führt.
RWE-Aktienkurs um rund zwei Drittel gesunken
Auslöser dafür ist ein Wertpapier, das die Stadt lange als Tafelsilber für schlechte Zeiten hütete, das aber mittlerweile viel von seinem alten Glanz verloren hat: die RWE-Aktie. Mehr als 18,6 Millionen Stück davon nennen die Stadt oder städtische Tochterfirmen ihr eigen, und als es 2007 daran ging, für die Eröffnungsbilanz den Wert in die Bücher zu schreiben, da notierte man den damaligen Kurs von 75,92 Euro je Aktie.
Mehr als 1,4 Milliarden Euro waren das mithin unterm Strich, und bei diesem Wert blieb es in Zeiten, da das Papier sich bis auf 100 Euro hochschraubte, es blieb dabei, als im Zuge der Finanzkrise der Absturz kam und auch, als der Atom-GAU von Fukushima die Energieriesen hierzulande bis ins Mark traf. Heute dümpelt der RWE-Kurs bei 27,85 Euro – grob ein Drittel dessen, was Essen in den Büchern stehen hat.
Stadt will nicht verkaufen – Gesetz zwingt zur Abschreibung
Nun macht sich so ein Wertverlust ja erst dann wirklich bemerkbar, wenn der Aktieneigentümer sich anschickt, sein Papier zu verkaufen, was die Stadt bislang tunlichst vermied. Die Frage aber stand stets im Raum, ob man nicht seriöserweise den Buchwert korrigieren muss, um kein städtisches Vermögen vorzutäuschen, wo keines ist. Stadtkämmerer Lars Martin Klieve argumentierte zuletzt mit dem Hinweis darauf, der Ertragswert der RWE-Aktien liege deutlich oberhalb dessen, was zehnjährige Staatsanleihen einbringen würden. „Diese Rechtsposition ist unangegriffen“, betont der Finanzchef, „und auch durch die Kommunalaufsicht nicht beanstandet“.
Womöglich muss man sagen: noch nicht. Denn nach der jüngsten Änderung des Gesetzes übers Neue Kommunale Finanzmanagement (NKF) scheint die Rechtslage sich gedreht zu haben: Paragraph 35 Abs. 5 der Gemeinde-Haushaltsverordnung schreibt „bei einer voraussichtlich dauernden Wertminderung eines Vermögensgegenstandes des Anlagevermögens“ jetzt außerplanmäßige Abschreibungen vor.
Die RWE-Aktie ist wohl so ein Fall. Erst vor dreieinhalb Wochen warnte RWE-Vorstandschef Peter Terium bei der Hauptversammlung in der Grugahalle, das Ergebnisniveau des Konzerns nach 2013 zu halten, sei „kaum möglich“.
Andere Gemeinden erwägen Abschreibung
Dass man womöglich nicht umhin kommt, den neuen Kurswert der RWE-Aktie in die Bilanz aufzunehmen, schwant nicht nur kleineren Gemeinden im Sauerland, sondern auch dem großen Nachbarn Dortmund, wo das Thema intern bereits erörtert wird. Und auch Kämmerer Klieve räumt ein, dass sich „die Anzeichen mehren“, eine solche Debatte führen zu müssen: „Wenn alle anderen das tun, können wir nicht einfach so darüber hinwegsehen.“
Toter Mann zu spielen, ist also keine Alternative, auch wenn die Zahlen dramatisch ausfallen: Denn selbst wenn man die von der Verkehrs- und Versorgungsholding EVV gehaltenen etwa sieben Millionen RWE-Aktien außen vor lässt: Die Stadt selbst verfügt allein über 11.750.777 Stückaktien, die zum Kurswert von je 75,92 Euro bilanziert sind. Müsste man zum Jahresende auf den aktuellen Wert vom vergangenen Freitag abwerten, fiele je Aktie eine Korrektur um 48,07 Euro nach unten an. Essen würde mit einem Schlag 11.750.777 mal 48,07 Euro, zusammen also 564.859.850 Euro und 39 Cent an Eigenkapital verlieren.
Verlust von mehr als 565 Millionen Euro brächte Essen kurz vor die Verschuldung
Minus 565 Millionen von jetzt auf gleich: Das brächte – ohne dass erst einmal mehr passierte als eine buchhalterische Korrektur – diese Stadt zwar noch nicht in die Verschuldung, aber kurz davor. Dann dürfte nichts, aber auch nichts mehr schiefgehen in der Etat-Politik der Stadt.
Ob ein geordneter Rückzug mit schrittweisen Abschreibungen helfen könnte? Die Bilanz wäre dann zwar nicht korrekt, aber korrekter als zuvor. Klieve mag darüber gar nicht erst spekulieren: „Solange es irgendwie geht“, will er „am bisherigen Kurs festhalten“, der da lautet: stillhalten.
Verkauf war bereits Ende 2007 geplant
Andere werden jetzt lauthals erinnern, dass man die RWE-Aktien Ende 2007, Anfang 2008 verkaufen wollte. Damals waren sie um die 100 Euro pro Stück wert.
Hätte, hätte, Fahrradkette.
Die Stadt als RWE-Aktionär
Seit 1905 ist die Stadt Essen an RWE beteiligt – damals eine Kompensation für die Ausweitung des Versorgungsgebiets. Die Scheu vor Aktienverkäufen wurde stets mit der Sorge begründet, den Einfluss auf den Konzernsitz zu verlieren.