Essen.
Männer, die es nicht anerkennen, wenn Frauen ihnen Anweisungen geben.
Häftlinge, die wegen Kleinigkeiten im Gefängnis sitzen und dort erst anfangen, alle anderen als „Weicheier“ und „Ungläubige“ zu beschimpfen.
Familien, die sich beleidigt fühlen, wenn der Gerichtsvollzieher in ihr Gebet platzt oder sich in der Wohnung nicht die Schuhe auszieht.
Männer, die sich nicht von ihren Frauen scheiden lassen wollen, weil sie die völlige Gleichberechtigung von Mann und Frau in Deutschland nicht anerkennen. All das und mehr ist Alltag in der deutschen Justiz.
Zentrum für Interkulturelle Kompetenz (ZIK) in Essen
Weil solche Szenarien in den letzten Jahren immer mehr zum Problem geworden sind, hat sich die NRW-Landesregierung nun etwas überlegt und das „Zentrum für Interkulturelle Kompetenz“ (ZIK) in Essen gegründet. Essen deshalb, weil es zentral in NRW gelegen ist und damit gut aus allen Teilen des Landes zu erreichen. Am Montag war Eröffnung – und die Hoffnungen sind groß.
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Justizbeamte und -angestellte aus allen Bereichen sollen von Mitarbeitern des Zentrums lernen, wie sie Menschen aus anderen Kulturkreisen am besten begegnen. Vier Islamwissenschaftler gehören bislang zum später etwa zwölfköpfigen Team. Sie schulen sowohl in den Räumen an der Lindenallee als auch vor Ort, zum Beispiel in den JVAs oder Gerichten des Landes.
Justizminister Biesenbach: „Überlegen, was man denen präsentiert“
NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU) erklärt, was es mit dem ZIK auf sich hat: „Hier soll die gesamte Kompetenz Nordrhein-Westfalens zusammenkommen, um sich intensiv darüber auszutauschen, was sie aus ihren Erfahrungen mit Islamismus und Radikalisierung in den Justizvollzugsanstalten oder anderswo gelernt haben. Wenn viele Strafgefangene in der JVA Ausländer sind, müssen wir uns überlegen, was man denen präsentieren muss.“
Dr. Ingo Wolf (FDP), ehemaliger Innenminister des Landes, ist Beisitzer des Pilotprojekts. Er sagt: „Die Probleme für die Justiz sind ähnlich wie die für die Polizei. Aber im Strafvollzug ist der Lernprozess größer. Es gibt mehr Zeit und mehr Chancen für Gespräche, als wenn man kurz eine Polizeikontrolle durchführt.“
Ein Drittel der Häftlinge Ausländer
Nötig ist das, weil mittlerweile bis zu ein Drittel der Menschen im Vollzug und in der Bewährung ausländischer Herkunft ist. Hinzu kommt alles, was die Justiz neben dem Strafrecht noch so beschäftigt, wie Zivilrechtsangelegenheiten oder der Gerichtsvollzug.
Männer wollen keine Anweisungen von Frauen befolgen
„Nicht wenige der Gefangenen kommen aus Ländern, in denen ein patriarchalisches System herrscht. Wenn die hier wegen kleineren Strafsachen ins Gefängnis kommen, sind sie überrascht, dass ihnen Frauen in der JVA Anweisungen geben. Das kennen sie aus ihren Heimatländern nicht“, sagt Peter Marchlewski, Pressesprecher des NRW-Justizministeriums.
Es gehe dabei nicht nur um religiöse Hintergründe. In bestimmten Ländern würden die Strukturen einfach feststecken: „Das ist wie bei uns in Deutschland vor 40 bis 50 Jahren.“
„Standhaft bleiben, Recht durchsetzen“
Früh eingreifen hilft. „2015, als sehr viele Flüchtlinge zu uns kamen und ein Bruchteil derer in unseren Gefängnissen landete, gab es vermehrt Probleme mit Männern, die Frauen nicht anerkannt haben. Da hilft nur: standhaft bleiben, unser deutsches Recht durchsetzen und die Menschen über unser demokratisches und gleichberechtigtes System aufklären“, sagt Marchlewski. „Das hat auch gefruchtet. Die Fälle sind viel, viel weniger geworden.“
Justizangestellte sollen Warnzeichen für Radikalisierung erkennen
Islamwissenschaftler Mustafa Doymuş, Dr. Luay Radhan und Mehmet Bilekli kennen sich in dem Bereich ebenfalls aus: Alle drei arbeiten jetzt für das Zentrum für Interkulturelle Kompetenz in Essen, beraten aber schon seit Jahren die Mitarbeiter in JVAs, wie sie Radikalisierungstendenzen erkennen können.
„Wenn jemand ohne Bart in die JVA gekommen ist und sich plötzlich einen wachsen lässt, zum Beispiel“, sagt Mehmet Bilekli, „kann das ein Zeichen für eine beginnende Islamisierung sein.“
Wer sich von anderen Häftlingen abschottet und sie als „Ungläubige“ beschimpft – auch gemäßigte Muslime –, fällt ebenfalls auf. Wer vorher nicht gebetet hat, nun aber regelmäßig, auch. Hier helfe Aufklärung.
Erst islamische Analphabeten, dann Islamisten
„Viele der späteren Islamisten waren vorher islamische Analphabeten“, sagte Mustafa Doymuş. „Dann haben sie so viel Mist gebaut, dass sie denken, jetzt besonders radikal religiös sein zu müssen.“
Ihnen müsse gesagt werden, dass diese radikalen, islamistischen Tendenzen nicht zu ihrer Religion gehören – „sonst können ihnen islamistische Verführer einfach erzählen, dass dies doch so sei. Und schon haben sie wieder jemanden überzeugt.“
ZIK in Essen als Vorbild für andere Bereiche?
Zu erkennen, ob und wann jemand sich radikalisiert, ist ein wichtiger Teil der Schulungen. Wie man Menschen aus unterschiedlichen Kulturen so begegnet, dass sie unser Recht anerkennen, ohne zwingend ihr Gesicht zu verlieren, ebenfalls.
Wenn das Zentrum für Interkulturelle Kompetenz erfolgreich ist, soll es seine Erfahrungen auch auf andere Bereiche wie Polizei oder Schulen ausrollen.
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