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Prozess um Gruppenvergewaltigungen im Ruhrgebiet: „Knackis vergessen nicht“ – so geht es den Angeklagten im Gefängnis

Prozess um Gruppenvergewaltigungen im Ruhrgebiet: „Knackis vergessen nicht“ – so geht es den Angeklagten im Gefängnis

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Foto: Peter Sieben

Essen. 

Joshua E. sitzt zusammengesunken auf dem Stuhl. Bevor er spricht, zieht er das Mikro zu sich heran; es wirkt bisweilen fast, als würde er sich daran festklammern.

Er ist einer von fünf Angeklagten im Prozess um mehrere Gruppenvergewaltigungen im Ruhrgebiet. Ihm und den anderen vier Angeklagten wird vorgeworfen in je wechselnder Besetzung mehrere Schülerinnen an entlegene Orte gefahren und sie zum Sex gezwungen zu haben.

Gruppenvergewaltigungen im Ruhrgebiet: Angeklagter blickt sich ängstlich im Saal um

Bei der Sitzung am Landgericht Essen am Mittwoch ging es um die Biographien der Angeklagten – ihre Schilderungen brachten Erstaunliches zutage.

Seit Monaten sitzen er und drei der Mitangeklagten in einer JVA – nur der minderjährige Antonio H. ist auf freiem Fuß. Wie es den Angeklagten im Gefängnis ergehe, fragte der Vorsitzende Richter Rolf Uhlenbrock.

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Joshua E. spricht wie immer mit leiser Stimme, bisweilen stockt er. Fast ängstlich blickt er sich im Gerichtssaal um, als könne er immer noch nicht glauben, dass er auf der Anklagebank sitzt.

Dean-Martin L.: „Ich hatte eine sehr schwere Zeit“

„Es gibt nichts schlimmeres. Ich weiß eigentlich keine passenden Worte“, sagt E., denkt noch einmal nach und ergänzt dann: „Es gibt nichts Schlimmeres als Gefängnis, außer Krebs.“

Der ebenfalls angeklagte Dean Martin L. sieht das ähnlich. „Ich hatte es sehr schwer in der ersten Zeit. Drei Monate saß ich in Einzelhaft. Und der ganze Knast kannte mich“, erzählt L. Als die anderen vier bereits verhaftet worden waren, war er auf der Flucht. Die Polizei fahndete damals öffentlich mit einem Foto.

„Knackis vergessen nicht, das musste ich leider erfahren. Jeder hatte mein Foto gesehen und wusste, wer ich bin. Ich musste mir viel gefallen lassen.“ Inzwischen sei das aber besser geworden. Aber die Zeit im Gefängnis werde er wohl nie mehr vergessen.

Sinti-Kultur und familiärer Zusammenhalt

Auffällig: Alle Angeklagten wuchsen nicht bei Mutter und Vater auf – ein Elternteil fehlt allen. Die Sinti-Kultur und der familiäre Zusammenhalt scheint bei allen lebensprägend gewesen zu sein.

Joshua E. erzhält, er habe stets Schwierigkeiten gehabt, Freunde in der Sinti-Gemeinschaft, in der er lebte, zu finden: Nur seine Mutter ist Sinti. „Dadurch ist man kein echter Sinto. Wenn ein echter Sinto sagt, die Wand ist grün, und ich sage, sie ist weiß, dann glaubt man dem echten Sinto, auch wenn ich recht habe“, fasst er die Gruppendynamik zusammen, die in der Gemeinschaft offenbar herrscht.

Eigentlich wollte er Fußballprofi werden

Schon zuvor hatte er angegeben, männliche Freunde habe er eigentlich keine gehabt, sei eher mit Mädchen befreundet gewesen, sagt er. Eigentlich wollte er Fußballprofi werden, spielte als Jugendlicher in der Kreisauswahl, hatte Angebote von Vereinen wie Rot-Weiss Essen und Alemannia Aachen. Eine chronische Darmerkrankung beendete die Karriere, bis heute braucht er alle zwei Wochen Spritzen.

Seine Tage habe er zuletzt vornehmlich damit verbracht, mit dem Audi A8 des Großvaters durch Gelsenkirchen zu fahren. „Damit fällt man auf, ich habe so viele Mädchen kennengelernt, war bekannt.“ Es sei kaum ein Tag vergangen, an dem er sich nicht mit einem Mädchen getroffen hätte.

Woher denn das Geld für solch ein Auto gekommen sei, fragte ihn der Vorsitzende Richter immer wieder. Die Mutter lebt von Arbeitslosengeld, der Vater habe auch keinen Job. „Ich weiß nicht, dafür hab ich mich nicht interessiert.“

„Das war ne Scheißaktion“

Dean-Martin L. erzählte von seinen Plänen. Er will das Abitur noch machen und Maschinenbau studieren, „egal, wie das hier alles ausgeht.“ In seinen Aussagen hatte er sich zuvor als eher passiver Mitläufer geriert. Die anderen habe er zuvor nur flüchtig gekannt.

„Warum haben Sie denn dann zwei Mal mitgemacht, wenn Ihnen das beim ersten Mal schon falsch erschienen war?“, fragte Uhlenbrock ihn.

„Ich hab keine logische Erklärung dafür. Das erste Mal, das war ne Scheißaktion“, sagt L. „Ich wusste ja beim zweiten Mal, wie deren Ablauf ist. Deshalb habe ich dem Mädchen, das dabei sein sollte, heimlich geschrieben, sie soll gehen. Um sie zu warnen.“ Er habe halt dazugehören wollen.

Joshua E. sagt ähnliches. „Wenn die anderen Bäckereien überfallen hätten, dann hätte ich eben dabei mitgemacht. Dann säß ich hier jetzt wegen Raubüberfällen.“

Vorbestraft ist E. nicht – L. hingegen hatte schon mehrfach Kontakt mit der Justiz. Als Jugendlicher hatte er mit Kumpels einen Böller in eine Schultoilette geworfen. Später war er mit einem Roller erwischt worden, den er mit seinem Führerschein nicht hätte fahren dürfen. Und schließlich gab es ein Verfahren wegen Hausfriedensbruchs: Mit Freunden war er in ein leerstehendes „Gruselhaus“ eingebrochen.

„Das klingt alles so dramatisch, ist es aber gar nicht“, sagt L. „Aber drei Mal gab es ja durchaus Brüche in ihrem Lebensweg“, hielt Uhlenbrock ihm vor. „Natürlich war das scheiße. Ich hab gedacht, mir fliegt das Herz raus, als ich das erste Mal im Gerichtssaal saß. Ich wollte das meiner Mutter nicht nochmal antun. Sie hat damals genau hinter mir gesessen“, sagt er. Und nach einer kurzen Pause: „Heute sieht meine Mutter mich im Fernsehen.“