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Angst und Scham: Wie Opfer von Vergewaltigungen zurück ins Leben finden

Angst und Scham: Wie Opfer von Vergewaltigungen zurück ins Leben finden

Anonym
Foto: imago
  • Eine Vergewaltigung kann junge Frauen in der Entwicklung ihrer Sexualität stören
  • Manche Opfer zeigen Taten nicht an
  • Expertin: Frauen müssen nicht sofort zur Polizei gehen

Essen. 

Erst vor wenigen Tagen hatten Berichte über Gruppenvergewaltigungen in Essen ganz Deutschland erschüttert.

Nicht zuletzt wegen der Fahndung nach einem der Verdächtigen wurde viel über die Täter berichtet. Doch wie erleben Opfer die Zeit nach solchen furchtbaren Verbrechen?

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Wir haben mit Marianne Wüstefeld Geschäftsführerin vom Dachverband der autonomen Frauenberatungsstelle (FBST) e.V. in Essen darüber gesprochen, wie eine Vergewaltigung ein Opfer beeinflusst – und wie es möglich ist, ein solches Erlebnis zu überwinden.

Was macht eine Vergewaltigung mit den Opfern?

Marianne Wüstefeld: Natürlich sind die Opfer immer vollständig traumatisiert. Sie wissen oft gar nicht wohin mit ihren Gefühlen, sie fühlen sich verschmutzt, verschämt. Das Fatale ist, dass oft Mädchen und Frauen sich dann noch selber Vorwürfe machen. Wieso konnte mir das passieren? Bin ich schuld? Hab ich nicht genügend aufgepasst? Das ist natürlich sehr dramatisch.

Die Frauen im aktuellen Fall aus Essen waren erst 16 Jahre alt. Ist eine solch schreckliche Erfahrung für so junge Mädchen besonders schlimm?

Wüstefeld: Ich glaube, jede Frau und jedes Mädchen ist von einer Vergewaltigung vollkommen entsetzt und psychisch natürlich ganz stark belastet. Aber bei jungen Mädchen, die vielleicht noch gar keine sexuellen Erfahrungen haben, ist es im Grunde noch dramatischer.

Junge Mädchen suchen erst ihre Sexualität, entwickeln ihre Sexualität und nach so einem Erlebnis ist es furchtbar schwierig, wieder ein normales Verhältnis zur Sexualität zu bekommen.

Wie ist es denn dann mit dem Vertrauensverhältnis zu Männern? Wird das gestört?

Wüstefeld: Jede Frau verarbeitet dieses Erlebnis unterschiedlich. Natürlich bleiben Ängste zurück und wahrscheinlich bleiben diese auch ein Leben lang oder es bleiben Narben haften. Wichtig ist, dass Frauen und Mädchen Unterstützung bekommen um das Erlebte verarbeiten und damit leben zu können. Man spricht ja auch oft von Überlebenden, gerade bei sexualisierter Gewalt.

Wie verläuft so eine Verarbeitung? Kann man sich aus der Opferrolle befreien?

Wüstefeld: Es gibt verschiedene therapeutische Möglichkeiten. Da gibt es zum Beispiel die Traumatherapie, in den Frauenberatungsstellen sind die Beraterinnen in der Regel auch ausgebildet.

Warum kann es für die Opfer schwierig sein, zur Polizei zu gehen?

Wüstefeld: Die Schwierigkeit zur Polizei zu gehen liegt in der Angst vor den Fragen. Die Angst, alles nochmal berichten zu müssen und damit alles nochmal durchleben zu müssen. Frauen sind dann oft auch unsicher: Was werden mir denn für Fragen gestellt und schaff ich das überhaupt, über dieses Erlebnis zu sprechen? Das ist eine enorme Belastung.

Mit der anonymen Spurensicherung fällt dieser Druck weg. Frauen können sich an eine Beratungsstelle wenden, es gibt mehrere Krankenhäuser, die an diesem Programm dieser anonymen Spurensicherung teilnehmen. Die Spuren werden gesichert und dann im Rechtsmedizinischen Institut gelagert. Die Frauen können dann zur Ruhe kommen und haben Zeit, sich zu überlegen, wann sie zur Polizei gehen wollen.

Wo finde ich denn solche Beratungsstellen oder Krankenhäuser, die an der anonymen Spurensicherung teilnehmen?

Wüstefeld: Sie rufen die Beratungsstelle in ihrer Nähe an und die arbeiten mit den Krankenhäusern zusammen. Wir veranstalten dort Schulungen mit den Ärzten und dem Pflegepersonal, damit die auch wissen, wie wir vorgehen und dort kann den Frauen dann weitergeholfen werden.

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Welche Schwierigkeiten können Angehörige von Vergewaltigungsopfern haben?

Wüstefeld: Viele Menschen, auch gerade aus dem näheren Umfeld, wissen nicht, wie reagieren sollen. Wie trete ich dem Mädchen gegenüber? Weil jeder von so einer schweren Gewalttat betroffen ist und nicht weiß, wie er auf die betroffene Frau zugehen kann. Diese Verunsicherung spüren auch die Mädchen und Frauen und das lässt oft die gesamte soziale Situation kippen.

Gibt es eine Möglichkeit als Opfer damit umzugehen und dieser Situation zu begegnen?

Wüstefeld: Auch da gibt es keine pauschalen Antworten, das ist die Schwierigkeit bei Gewalttaten. Jedes Opfer empfindet anders. Es gibt Frauen und Mädchen, die damit ganz offensiv umgehen, die darüber reden. Es gibt Frauen und Mädchen, die sich vollkommen in sich zurückziehen, sich isolieren.

Da kann man keine allgemeingültigen Antworten geben und nicht sagen: Es ist wichtig, dass die Frauen sich outen, dass sie nach außen gehen, dass sie anzeigen. Also da muss man immer auf die persönlichen Empfindlichkeiten achten und auf die persönliche Verfassung. Allgemeingültig gibt es in dem Fall nicht. Das wäre am einfachsten. Es zählt immer die persönliche Situation und das wissen auch die Beraterinnen. Das ist immer ganz unterschiedlich und da muss man dann immer schauen, was braucht die Frau, um mit der Situation umzugehen.

Wo genau können Frauen Unterstützung bekommen?

Wüstefeld: Einmal gibt es die Frauenberatungsstellen hier in Nordrhein-Westfalen, aber auch bundesweit. Dort gibt es auch meistens Fachstellen für Opfer von sexualisierter Gewalt. Aber es gibt auch das bundesweite Hilfetelefon, das ist Tag und Nacht kostenlos und anonym zu erreichen.

Dort bekommt man per Chat oder Anruf erste Hilfe und bekommt auch bundesweit Beratungseinrichtungen genannt. Die Nummer ist 08000 116016. Gerade auch nachts, da sind die Beratungsstellen geschlossen, kann man sich dann erste Hilfe holen. Dort kann man dann persönlich mit einer Kollegin sprechen.

Beim Hilfetelefon und in den Beratungsstellen arbeiten nur Frauen, aber es können sich auch Männer, Angehörige und Fachpersonal beim Hilfetelefon melden. Da kann jeder anrufen, auch die Eltern, wenn sie nicht wissen, wie sie mit so einer Situation umgehen sollen und sich dort auch über Beratungsstellen in der Nähe informieren. In den Beratungsstellen arbeiten nur Frauen und das ist auch wichtig, denn es soll ein Schutzraum für Frauen sein.