Das Hooligans-Problem in englischen Stadien ist weitgehend gelöst. Dennoch wünscht sich in Deutschland niemand „englische Verhältnisse“. Würde dies doch auch bedeuten: null Stimmung. Grund genug, über die hiesige Ultra-Szene differenzierter zu urteilen. Ein Kommentar.
Essen.
Was ist bloß mit dem englischen Fußball los? Zugegeben, eine auf den ersten Blick irritierende Frage angesichts des bevorstehenden Durchmarsches der vier Premier-League-Klubs in der Gruppenphase der Champions-League. Aber in diesem Fall ist nicht die Qualität der Teams gemeint, sondern die ihrer Fans.
Leichtes Hüsteln statt Fangesänge in englischen Stadien
Die Anhänger des FC Schalke 04, die ihren Klub nach Chelsea begleitet hatten, sahen bestätigt, was schon ihre Dortmunder Kollegen vom BVB-Gastspiel bei Arsenal berichten konnten: In englischen Stadien ist im Vergleich zu den Bundesliga-Arenen „tote Hose“. 2000 Gästefans schaffen es dort locker, die Stimmungshoheit zu erobern.
Unfassbar für alle, die sich noch an andere Zeiten erinnern können. In den 1960er- und 1970er-Jahren blickte unsereins neidvoll auf die Insel, wo Fußball für Spektakel und Gänsehaut-Feeling stand. Die Fernseh-Übertragungen vom englischen Cup-Final gehörten auch für deutsche Fans zu den Jahreshöhepunkten. Die Namen der Straßen, an denen die großen Stadien liegen – Anfield Road in Liverpool, White Harte Lane in Tottenham – waren einem geläufig wie die Hafenstraße in Essen oder der Bökelberg in Mönchengladbach. Und heute? Selbst in Liverpool, wo 1963 die Geburtsstunde der Mutter aller Fußballsongs („You’ll never walk alone“) schlug, ist der berüchtigte „Anfield roar“ allenfalls noch ein leichtes Hüsteln.
Zur Geschichte der englischen Fankultur gehört freilich auch die Hooligan-Szene, die Mitte der achtziger Jahre ihre zerstörerische Kraft entfaltete. Die Trägödie im Heysel-Stadion beim Europacup-Endspiel zwischen Liverpool und Juventus Turin 1985 steht beispielhaft dafür.
Bengalos sind auf keinen Fall hinzunehmen
Die damalige massive Bedrohung des Fußballs ist vom Fußballverband im Doppelpass mit der Politik dank rigoroser Maßnahmen abgewehrt worden. Aber um einen hohen Preis: Die Verbannung der Stehplätze hat in Verbindung mit drastisch erhöhten Eintrittspreisen und Identitätsverlusten durch ausländische Großinvestoren viele wahre Fußballfans aus den Stadien vertrieben. Inzwischen suchen diese sich ihren Platz an den Spieltagen vorzugsweise vor den TV-Geräten in den überfüllten Pubs.
Wer hier zu Lande von der Sorge vor solchen englischen Verhältnissen umgetrieben wird, sollte freilich auch einen differenzierteren Blick auf die hiesige Ultra-Szene werfen. Auch wenn das Abfeuern von Bengalos nicht hinzunehmen ist und das unablässige Absingen diverser Lieder unabhängig vom Spielgeschehen zuweilen nerven kann – ohne den stimmlichen Einsatz der organisierten Fans in den Stehplatzkurven wäre es nicht so weit gekommen, dass Engländer heute von „deutschen Verhältnissen“ im Ligafußball schwärmen.