Veröffentlicht inSport

Abwehr ohne Libero? Mythos und Wahrheit zur Viererkette

Abwehr ohne Libero? Mythos und Wahrheit zur Viererkette

imago01293137m.jpg
Bildnummer: 01293137 Datum: 16.10.2004 Copyright: imago/Martin Hoffmann Trainer Ralf Rangnick (li., Schalke) zu Gast im ZDF Sportstudio, hi. eine Taktiktafel, auf der Rangnick in einer früheren Sendung den Zuschauern die Viererkette erklärte; Vdig, quer, close, öffentlich rechtliche, Studiogast, Studiogäste, Coach ZDF-Sportstudio 2004, Sendung, Fernsehsendung, Sportsendung, Studio, Fernsehstudio, FC Schalke 04 Mainz Fußball Herren Mannschaft Deutschland Einzelbild Randmotiv Personen ### Imported per Email (2011-03-15 15:39) ### From: a.ernst@derwesten.de Subject: ralf Content: ralf Foto: imago
Die Viererkette ist inzwischen das vorherrschende Defensivsystem im internationalen Fußball. Weltweit wird also ohne Libero gespielt – sollte man meinen. Aber die Viererkette bedeutet keinesfalls das Ende des Liberos. Wir klären auf, was es mit diesem Abwehrsystem auf sich hat.

Essen. 

Jörg Berger war sichtlich gut gelaunt. Gerade hatte Schalke 04 am ersten Spieltag der Saison 95/96 den 1. FC Köln mit 1:0 besiegt – und das gegen „Kölns hochgelobte Dreier-Abwehrkette“, wie der Fernsehkommentator ehrfurchtsvoll betonte. „Ich höre immer Dreierkette, Viererkette“, sagte also ein tiefenentspannter Jörg Berger, damals Trainer der Königsblauen. „Ich sage immer, man soll das spielen, was man kann. Es gibt auch Perlenketten, das interessiert mich alles nicht.“

Jörg Berger war damit der typische Vertreter einer Zeit, in der noch der Satz von Matthias Sammer galt: „Wir Deutschen haben keine Ahnung von Taktik.“ Drei Jahre später wurde Ralf Rangnick, damals Trainer des SSV Ulm, von der Bild als „Fußball-Professor“ verhöhnt – nur weil er im „Aktuellen Sportstudio“ des ZDF die Viererkette an einer Taktiktafel erklärt hatte.

Und die deutsche Nationalmannschaft trat noch 2000 bei der Europameisterschaft in Portugal mit Libero und Manndeckern an – und hätte vielleicht noch jahrelang so weitergemacht, wenn man sich nicht gegen Rumänien, England und eine portugiesische B-Elf bis auf die Knochen blamiert hätte. Doch spätestens mit diesem krachenden Scheitern der deutschen Nationalmannschaft waren Libero und Manndeckung auch im deutschen Fußball endgültig ausgemustert und hier wie auch in der restlichen Welt ist inzwischen die Viererkette das vorherrschende System in der Abwehr.

Der Hauch des Exotischen

Anfangs umwehte die Viererkette noch der Hauch des Exotischen und so kam es vor, dass im Fernsehen das Bild angehalten wurde, eine Linie ins Bild gelegt wurde und die Kommentatoren ganz aus dem Häuschen gerieten: „Sehen Sie? Alle vier Verteidiger auf einer Linie!“ Diese Situation gibt es bei einer funktionierenden Viererkette allerdings eher selten zu sehen – doch dazu später mehr.

Wie der Name schon verrät, besteht eine Viererkette aus vier Abwehrspielern – zwei Außen- und zwei Innenverteidigern -, die in etwa auf einer Höhe agieren. Die feste Manndeckung, bei der ein gegnerischer Stürmer auf Schritt und Tritt von einem festen Gegenspieler verfolgt wird, ist abgeschafft, verteidigt wird im Raum. Anders als oft angenommen bleibt die Rolle des Liberos, der die übrigen Abwehrspieler absichert, aber erhalten – anders als früher ist diese Aufgabe aber nicht fest vergeben, sondern wird, wenn es erforderlich ist, von einem der Innenverteidiger übernommen.

Zwei wesentliche Aufgaben: Raumverknappung und das Schaffen von Überzahl

Weil nun alle Abwehrspieler mehr oder weniger auf einer Höhe agieren, ist es leichter möglich, eine Abseitsfalle zu stellen. Die Abwehrkette kann geschlossen vorrücken und so den Raum für die gegnerische Mannschaft verengen. Durch die Aufgabe der Manndeckung kann außerdem leichter Überzahl in Ballnähe geschaffen und die gegnerische Offensive unter Druck gesetzt werden. Die Viererkette ist also nicht mehr als ein Mittel zum Zweck, um das zu erreichen, worauf es im modernen Defensivspiel ankommt: die Verknappung des Raumes und das ständige Schaffen von Überzahl in Ballnähe.

An zwei Beispielen lässt sich deutlich machen, wie das funktioniert: Angenommen, die gegnerische Mannschaft greift über die linke Abwehrseite an. Der Linksverteidiger stellt sich diesem Angriff nun entgegen, gleichzeitig rückt der linke Innenverteidiger nach links, um seinen Mannschaftskameraden abzusichern – wird der Linksverteidiger also umspielt, ist der Weg zum Tor noch nicht frei. Der rechte Innenverteidiger schließt die entstandene Lücke und der Rechtsverteidiger rückt ein. Auf links wird also Überzahl geschaffen, gleichzeitig entsteht auf der rechten Seite viel Raum – weil dies aber die ballferne Seite ist, wird das in Kauf genommen.

Wird der Ball dagegen durch die Mitte vorgetragen, ist es je nach Situation einer der Innenverteidiger, der dem Ball entgegengeht, in unserem Beispiel der linke. Der rechte Innenverteidiger übernimmt nun die Rolle des Liberos und sichert ab, die beiden Außenverteidiger lassen sich nach hinten fallen und rücken ein wenig nach innen – wieder ist Überzahl in Ballnähe geschaffen, zumal in der realen Spielsituation ja auch die defensiven Mittelfeldspieler dabei sind. Die Abwehrspieler müssen ihre Bewegungen aber genau aufeinander abstimmen: Lässt sich ein Spieler – wie der Rechtsverteidiger in unserer Grafik – zu tief fallen, können sich Stürmer im Rücken der anderen Verteidiger freilaufen, ohne im Abseits zu stehen.

Auch bei langen Bällen geht in der Regel ein Innenverteidiger dem Ball entgegen und versucht, ihn wegzuköpfen, während der andere hinter ihm absichert – man spricht hier von der Tiefenstaffelung. Weil in vielen Situationen also ein Abwehrspieler rausrückt und die anderen für ihn absichern, kommt es also ständig zu Situationen, in denen die Verteidiger nicht auf einer Linie agieren.