Vor 70 Jahren begann in Polen der 2. Weltkrieg – eine friedliche Reise im „TEE Rheingold” nach Masuren und Ostpreußen
Eisenbahnfans hören es sofort: Nach der polnischen Grenze rattern die Räder mit einer anderen Melodie. Klingt irgendwie entschleunigt auf dem Schienenstrang der Polnischen Staatsbahn. Die Reisenden lümmeln träge in den Polstern; für viele war es bereits ein langer Tag im Zug. Doch unerwartet, wie Vorboten auf die Masuren, tauchen bereits kurz hinter Thorn die ersten Störche auf, und plötzlich sind im Sonderzug „TEE Rheingold” alle hellwach. Zwei der großen Vögel kreisen über einem Wäldchen, andere staken nahe der Gleise. „Die ersten Störche sind immer die spannend-sten”, weiß Reiseleiter Tomasz, denn in Masuren und Ostpreußen werden wir noch Hunder-te zu sehen bekommen. Weltweit sei „jeder vierte Storch ein Pole”, behauptet Tomasz. Und vielleicht stimmt es auch: Nester überall, auf Dächern, Telegrafenmasten, Schornsteinen.
In den Abteilen drehen sich die Gespräche bald wieder um die noch taufrischen Erlebnisse des Tages. Poznan (Posen), der erste Stopp der Reise, hat alle überrascht. Dieser wunderbare Marktplatz mit den form-enreichen Giebelhäusern und dem prächtigen Renaissance-Rathaus in der Mitte verführte zu wahren Foto-Orgien. Auch Thorn an der Weichsel, die Stadt des Nikolaus Kopernikus, begeisterte mit seinem gotischen Bauensemble, das von der UNESCO zum Weltkulturerbe geadelt wurde.
Bis zum Tagesziel Mragowo (Sensburg) in den Masuren bleibt noch genug Zeit, um den speziell für diese Reise zusammengestellten Sonderzug zu erkunden. Hansa-Express nennt der Veranstalter seine Schienenkreuzfahrten nach Masuren, Königsberg und Danzig. Doch dieses Jahr ist erstmals eine Zuggarnitur des legendären TEE Rheingold im Einsatz. Nicht etwa die Wagen der ersten Stunde, als 1928 der Rheingold als Inbegriff eines Luxuszuges auf der Strecke Hoek van Holland-Basel Geschichte schrieb. Unsere Garnitur stammt aus den 80er Jahren, bevor der Zug 1987 endgültig aufs Abstellgleis kam. Schon leicht veraltet, aber urgemütlich bieten die Erste- Klasse-Wagen viel Platz, selbst lange Beine kommen sich nicht ins Gehege. Im Speisewagen wird je nach Strecke mal Mittag- oder Abendessen aus der winzigen Bordküche serviert, und im Barwagen stehen immer Getränke, Kaffee und Kuchen zur Auswahl.
Aus dem Barwagen fetzt der Chattanooga Choo Choo von Glenn Miller, auf Wunsch lässt es Pianist Christian richtig krachen. Meist aber perlen die Melodien von Blues bis Beatles dezent durchs Abteil. „Ententanz” oder die „Schwarze Barbara” sind nicht zu befürchten, Der Hansa Express zieht ein interessiertes und informiertes Publikum an, darunter viele Eisenbahn-Liebhaber. Der Altersdurchschnitt dürfte sich um die 60 bewegen. Da sind aber auch der geschichtsinteressierte Abiturient an Bord und die muntere 89-Jährige, die manchem Jüngeren vorausläuft. Vielen Mitreisenden geht es wie dem Ehepaar aus Duisburg: „Die Tour bietet alles, was wir schon lange sehen wollten.”
Für viele ist es eine Reise in die eigene Vergangenheit: Die Großeltern stammten aus Königsberg oder Danzig – und nun möchte man die Region selbst einmal kennen lernen.
Masuren: kompakt und voller Kontraste. Das laute Orgelkonzert bei den Jesuiten im Barockkloster Heiligelinde und die Morgenstille im Stocherkahn auf dem Urwaldflüsschen Krutina; das innere Frösteln beim Anblick der Ruinen des wahnwitzigen Führerhauptquartiers „Wolfsschanze” und die sonnig-heitere Bootsfahrt auf dem Löwentinsee bei Lötzen.
Ein Höhepunkt ist der Besuch auf dem ehemaligen Jagdhof Golkowo bei Renate Marsch-Potocka, die viele Jahre für die Deutsche Presseagentur in Polen tätig war. Sie hat zu Ehren Marion Gräfin Dönhoffs einen Salon mit Fotos, Büchern und persönlichen Andenken eingerichtet – und sie weiß viele spannende Geschichten über die couragierte Gräfin zu erzählen, die sich als Chefredakteurin der Wochenzeitung „Die Zeit” für die Aussöhnung mit Polen nach dem Krieg einsetzte.
Nach drei Tagen Zug-Entzug – die Ausflüge werden mit Bussen unternommen – wird der „Rheingold” wie ein alter Freund begrüßt. Mit gemächlichem „dadaram, dadaram” rollt er nun der russischen Grenze entgegen. Hinter dem Grenzbahnhof Braniewo (Braunsberg) wird’s spannend: Muss der Zugchef wieder Wodka mit den Zöllnern verlöten, oder geht es diesmal flott?
Alles bestens, keine Probleme bei der Passkontrolle. Bald schon gibt ein eisernes Tor die Nebenstrecke frei, und der Rheingold darf in die russische Exklave des Kaliningrader Gebietes einfahren. Heute ist die einstige Kornkammer wenig besiedelt, viel fruchtbares Land liegt brach.
An das alte Königsberg erinnern nur der wiedererbaute Dom und das Kant-Denkmal. Sonst beherrschen Plattenbauten das Stadtbild von Kaliningrad. Am Ufer des Pregel entstand ein kleines Häuserensemble mit Leuchtturm sowie Nachbauten von Großbürgerhäusern aus der Gründerzeit. Das nagelneue Hotel hinter historischer Fassade heißt „Kaiserhof”. Nur die goldenen Kuppeln der russisch-orthodoxen Kirche sorgen für ein wenig Glanz – übrigens ein Geschenk Putins zu Ehren seiner Frau, die aus Kaliningrad stammt.
Der Kontrast zu Danzig, der letzten Station in Pommern, könnte kaum größer sein. Hier wirkt die Altstadt, als stünden die Häuser unversehrt seit Jahrhunderten. Dabei war Danzig ein Trümmerhaufen. Wer auch immer so weise war, den Stadtkern schon bald nach dem 2. Weltkrieg im Stil der Originalfassaden wieder zu errichten – die Bewohner verdanken dieser Entscheidung ein gutes Stück Lebensqualität.
Heute lockt die HansestadtTouristen aus aller Welt, und auch die Schienenkreuzfahrer begeistern sich an Türmen, Toren und Palästen. Man trifft sich in den Prachtstraßen, Gassen und auf der Uferpromenade der Mottlau in Restaurants und Cafés. Hier kann man die Reise bei einem Gläschen dieses herrlich altmodischen Danziger Goldwassers ausklingen lassen. Noch bleibt ein Tag im Zug. Lesen, dösen, plaudern. Auf einen Drink beim Barpianisten vorbeischauen, der sich mit „As time goes by“ verabschiedet.