Eine Deutsche Bankkauffrau gab sicheren Job auf und gründete eine Mitwohnzentrale in der Lagunenstadt
Helga Gross hatte einen sicheren Job, geregelte Arbeitszeiten und überwiegend nette Kollegen. Doch eines Tages hatte die Bankkauffrau aus Nürnberg keine Lust mehr, ihren Kunden Darlehensverträge anzudienen, kündigte und zog 1995 nach Venedig. Sie kannte keinen Menschen dort, sprach nur begrenzt Italienisch, hatte aber eine Idee im Kopf, die sie konsequent verfolgte: Helga Gross wollte eine Mitwohnzentrale, damals die zweite Italiens, aufbauen.
Zuerst hat sich die risikobereite Frau im Hotel einquartiert. Sie gab Anzeigen auf und knüpfte Kontakte, um Mitwohngelegenheiten zu finden – für ihre künftigen Kunden, aber zunächst einmal für sich. Nach zwei Wochen konnte die Fränkin ihr Hotelzimmer verlassen und sich in einer weitaus preiswerteren Wohnung am Lido einquartieren. „Das ging relativ schnell, es war November, der große Rummel war vorbei”. Noch heute ist dieser Monat der Lieblingsmonat der Wahl-Venezianerin. Dann gehört Venedig wieder ein Stück mehr den Einheimischen. Nur noch jeder dritte Passant irrt ratlos mit einem Stadtplan herum und blockiert dabei die Gassen an ihren engsten Stellen.
So wie ich, als ich das Büro der Mitwohnzentrale gesucht habe – und ohne den Spürsinn einer freundlichen Italienerin niemals gefunden hätte. Das vollgestellte Zimmer, das Helga Gross mit ihrer Mitarbeiterin Kirsten, einer ehemaligen Floristin aus Hamburg, sowie Hund Felix teilt, liegt direkt am Kanal. Sehr viele Venedig-Besucher wollen übrigens am liebsten an so einem Kanal logieren. Doch Helga warnt: „Die meisten wissen gar nicht, was das bedeutet. In Venedig läuft alles über die Kanäle. Frühmorgens die Anlieferung für die Hotels, dann die Müllboote, die Krankentransporte und der Baustellenverkehr. Und irgendwann mögen Sie das ‚O Sole mio‘ der Gondoliere auch nicht mehr hören.”
Mitwohngelegenheiten im ursprünglichen Sinne vermittelt Helga Gross kaum noch. Vor zehn Jahren haben noch etliche Familien das Kinderzimmer vermietet, um im Sommer ein paar Lire dazu zu verdienen. Die venezianische Mama hat den Mitbewohner auf Zeit dann mit Frühstück und Insiderwissen versorgt. „Diese Zeiten sind vorbei. Die Leute sind anspruchsvoller geworden. Mieter und Vermieter wollen ihre Privatsphäre und ein Bad für sich allein.”
Der typische Kunde der Mitwohnzentrale möchte ein bisschen weniger Tourist sein und dafür mehr am Leben der Stadt teilnehmen. Möchte im Lebensmittelgeschäft des Viertels einkaufen, gelegentlich selbst kochen und sich nach intensivem Kulturprogramm auf seine Altana, der typisch venezianischen Dachterrasse aus Holz, zurückziehen.
Viele deutsche „Mitwohner” sprechen etwas Italienisch, schätzen aber trotzdem die Möglichkeit, sich in der Muttersprache beraten zu lassen. 80 Wohnungen und Zimmer hat die Mitwohnzentrale im Angebot: im Palazzo mit Stuckdecke, zentral in der Nähe der Rialtobrücke oder ruhiger in Santa Elena, der letzten Vaporetto-Station vorm Lido, gelegen. Nur beim Blick ins Grüne muss Helga Gross passen.
Bäume sind in der Lagunenstadt Mangelware. Dafür hat Kirsten, die Blumenhändlerin a. D., den Tipp mit dem Wigwam-Club parat. Dieser Verein (http://www.giardini-venezia.it/) bietet Führungen durch die verwunschenen Gärten in venezianischen Innenhöfen an.
Das Schmuckstück unter den Wohnungen ist 120 Quadratmeter groß und bietet einen Blick auf den Canal Grande, Mietpreis ab 2500 € pro Woche. Meist sind die Behausungen kleiner und die Preise moderater: 50 qm für 800 €. Oft liegen sie an einem der charmanten, kleinen Plätze, die in Italien Campo heißen. Der Titel Piazza ist allein dem Markusplatz vorgehalten.
Saison ist in Venedig eigentlich das ganze Jahr. Richtig voll wird’s erstmals im Jahr zur Karnevalszeit und dann von Ostern bis Oktober. Anschließend kommen Stammgäste wie der Psychologe aus Bayern, der dieses Jahr den Urlaub verschoben hat, weil „seine” Wohnung am Campo S. Pantalon vermietet war. Und im Winter bleibt Helga Gross vielleicht endlich Zeit, eine neue Bleibe für die Mitwohnzentrale zu suchen. Weit weg vom lauten Kanal, falls das in Venedig überhaupt möglich ist.