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Wie Matera vom Schandfleck zum einzigartigen Schatz Italiens wurde

Wie Matera vom Schandfleck zum Schatz wurde

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Matera mit seinen mysteriösen Höhlen galt einst als gottverlassen. Heute ist die italienische Stadt Weltkulturerbe. Die „Sassi“, in der früher Menschen unter erbärmlichen Bedingungen vegetierten, wollen heute neu entdeckt werden.

Matera. 

Das Panorama vom Belvedere ist überwältigend, wie eine klaffende Wunde zerreißt die tiefe Schlucht Gravina das graue Karstplateau. Die steile Felswand vis-a-vis gleicht einem Schweizer Käse mit Dutzenden von finsteren Löchern, die dicht bei dicht in mehreren Etagen neben- und untereinander liegen. Und über diesem seltsamen Massiv thront ein Sahnehäubchen aus Häusern, Klöstern und Kirchen, das im milden Licht pastellfarben leuchtet.

Matera heißt diese einzigartige Stadt in Italien. Sie liegt 30 Kilometer von der Küste entfernt im Hinterland von Taranto an der Grenze zwischen Apulien und der Basilicata und wurde zunächst berüchtigt, dann berühmt durch Italiens wohl außergewöhnlichstes Monument der Weltkultur. Die „Sassi“ nämlich, jene Löcher unter der Stadt, sind mysteriöse Grotten, die bereits in grauer Vorzeit in den weichen Tuffstein getrieben und bis nach dem Zweiten Weltkrieg nahezu ununterbrochen bewohnt wurden.

Einst eine „archaische Welt voller Aberglauben, Armut und Verwahrlosung“

Ein von Gott verlassener Ort im Mezzogiorno, den der junge Turiner Arzt und Antifaschist Carlo Levi 1935 während seiner Verbannung kennen lernt. In seinem weltbekannten und später verfilmten Roman „Christus kam nur bis Eboli“ schildert Levi in drastischen Bildern eine archaische Welt voller Aberglauben, Armut und Verwahrlosung und klagt die Missstände vehement an. „Die Türen der Behausungen standen wegen der Hitze offen, und ich sah in das Innere der Höhlen, die Licht und Luft nur durch die Türen empfangen. Einige besitzen nicht einmal solche. Man steigt von oben durch Falltüren und über Treppchen hinein. In diesen schwarzen Löchern mit Wänden aus Erde sah ich Betten, elenden Hausrat und hingeworfene Lumpen. Auf dem Boden lagen Hunde, Schafe, Ziegen und Schweine. Im allgemeinen verfügt jede Familie nur über eine solche Höhle, und darin schlafen alle zusammen: Männer, Frauen, Kinder und Tiere.“

Die Zustände in Matera sind so übel, dass die Stadt als „nationale Schande“ gilt. Noch bis Anfang der 1950er Jahre vegetieren in den Sassi 20 000 Menschen unter erbärmlichen Bedingungen. Die Kindersterblichkeit ist viermal so hoch wie im Rest Europas, anderswo fast ausgerottete Krankheiten wie Malaria und Typhus halten sich hier überaus hartnäckig. Erst 1954 ist Schluss damit: Die Sassi werden zwangsgeräumt, die Menschen in neu gebauten Sozialwohnungen untergebracht.

Auch Hollywood hat die Stadt als Kulisse entdeckt

Dreißig Jahre später erst begreift man in Italien, welcher einzigartige kulturhistorische Schatz wenige Meter unter der Oberfläche allmählich verfällt und unwiederbringlich verloren geht, wenn nicht unverzüglich etwas passiert. Die Behörden setzen eine umfassende Sanierung in Gang, die ganz gemächlich vonstatten geht und bis heute andauert. Einen gewaltigen Schub gibt es noch einmal ab 1993, als Matera zum Unesco-Weltkulturgut erklärt wird. Und auch Hollywood hat die Stadt inzwischen als Kulisse entdeckt: Die Kreuzigungsszenen in Mel Gibsons umstrittener „Passion Christi“ wurden in der Schlucht von Matera gedreht.

Eine Erkundung der Sassi-Welt beginnt am besten in Begleitung eines professionellen Führers oben in der Stadt. Treppab, treppauf vorbei an immer noch gespenstisch toten Augenhöhlen verlassener um- und überbauter Grotten, aber auch flankiert von vielen Sassi, die inzwischen tadellos restauriert und nagelneuen Nutzungen zugeführt wurden. Als attraktive Eigentumswohnungen etwa, für die manche Leute bereitwillig 100 000 Euro und mehr hinblättern – vor allem Künstler aus der Region. Doch auch Souvenir- und andere Geschäfte, Bistros, Trattorias oder auch stilvolle Hotels haben in alten Grotten und sogar ganzen Höhlen-Systemen ein neues Zuhause gefunden.

Kleines Höhlenkino mit dokumentarischen Filmmaterial

Weiter unten faszinieren nicht nur immer wieder großartige Ausblicke in den wilden Gravina-Canyon, hier verschafft eine Panoramastraße auch direkten Zugang zu ganzen Sassi-Vierteln. Fast nur aus Höhlenwohnungen besteht der Sassi Caveoso, im Sassi Baresano gibt es hingegen auch ganz oder teilweise aufgemauerte Häuser. Wie das Leben in den Sassi einst aussah, wird im kleinen Höhlenkino anhand dokumentarischen Filmmaterials veranschaulicht. Die Casa Grotta gleich nebenan ist eine museale Wohnhöhle mit originalen Einrichtungsgegenständen und Werkzeugen – selbst ein Pferd fehlt hier nicht und liefert eine ziemlich bedrückende Vorstellung vom früheren Alltagsleben einer Bauernfamilie.

Zu den herausragenden Grotten-Schätzen Materas gehören Dutzende von Höhlenkirchen. Diese entstanden zumeist im Hochmittelalter, als die Region Lukanien heiß umkämpft war zwischen byzantinischem und langobardischem Reich und sich ein wichtiges Phänomen in der christlichen Gesellschaft jener Zeit manifestierte: das Mönchstum. Die Kirche Santa Lucia alle Malve zum Beispiel, etwas oberhalb der Casa Grotta gelegen, geht zurück auf Basilianermönche, die vom 9./10. Jahrhundert bis 1283 in der Gegend wirkten. Die Kirche besticht durch die Schönheit und Klarheit ihrer fast achthundert Jahre alten Fresken, und das, obwohl diese unter den Ausdünstungen von Mensch und Tier in der noch bis 1960 als Wohnung und Stall genutzten Höhlenkirche schwer gelitten haben.

Die Männer debattieren und die Frauen tratschen

Matera ist nicht zuletzt aber nicht nur die Stadt der Sassi, sondern hat auch ein lebhaftes Zentrum mit sehenswerter Altstadt. Ausgangspunkt: die Piazza Vittorio Veneto mit barockem Palazzo del Governo und einem alten Dominikanerinnenkloster mit dachlosem Obergeschoss, das als luftige Caféhaus-Terrasse einen ebenso fabelhaften Blick über die Dächer der Stadt ermöglicht wie der benachbarte Aussichtspunkt. Eine nette Kulisse aber nicht nur für Touristen auf ihren Streifzügen durch die obere Altstadt und ihre zahlreichen Kirchen, auch die Einheimischen schätzen das autofreie Scharnier zwischen Alt- und Neustadt: Männer zum Debattieren, Frauen zum Tratschen, Jungvolk zum Lärmen, Rentner zum Plauschen. Und wer Glück hat wie der Autor, sieht vielleicht sogar eine Hochzeit. Mit dem einzigartigen Matera als Background.