In den letzten zehn Jahren hat die Tourismusbranche Nordirland neu entdeckt. Belfast begeistert mit zahlreichen politischen und historischen Touren.
Essen.
Regen prasselt auf die mit Graffiti besprühten Mauern von Belfast. Hohe Drahtzäune ragen bedrohlich in den grau bewölkten Himmel. An vielen Ecken sieht man beunruhigend realistische Darstellungen von Mitgliedern der IRA, der Irish Republican Army, bewaffnet mit schweren Geschützen. Über den drohenden Gesichtern prangt der Slogan: „Tiocfaidh ár lá“ – „Unser Tag wird kommen“. Ein Schauplatz der Unruhen. Die Viertel im Westen der nordirischen Hauptstadt zeugen noch heute von den „Troubles,“ dem Bürgerkrieg zwischen den katholischen irischen Nationalisten und den protestantischen Anhängern des Vereinigten Königreichs, der Nordirland von 1969 bis 1998 erschütterte und über 3000 Menschen das Leben kostete. Besonders prominent sind diese an der Falls Road vertreten, der Hauptstraße des Westviertels, an der sich die alten Trennungszäune, die sogenannten „peace lines“, entlang ziehen.
Nicht weit entfernt jedoch, in der Stadtmitte von Belfast, ist von den ehemaligen Auseinandersetzungen kaum noch etwas zu merken. Unzählige Pubs und Restaurants reihen sich aneinander, das Europa-Hotel, früher bekannt als das meist bombardierte Hotel der Welt, ist heute ein Vier-Sterne-Haus und Unterkunft prominenter Persönlichkeiten – vom ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton bis hin zur Queen von England.
Der Konflikt von damals ist heute eine Touristenattraktion – zahlreiche politische und historische Touren führen durch die Schauplätze des Bürgerkriegs.
Niemand interessiertsich mehr für Krieg
Im Alltag spielt dieser kaum noch eine Rolle. „Die Leute gehen zusammen zur Arbeit, sie sind Nachbarn, Kollegen“, erklärt Reiseführer Derek Gordon. „Niemand interessiert sich mehr für die Auseinandersetzungen von früher.“ Der Wandel in Nordirland ist insbesondere im Tourismus deutlich spürbar – in den letzten zehn Jahren stieg Belfast zu einem der beliebtesten Reiseziele in Großbritannien auf. Jonathan Bell, frisch gewählter Minister für Unternehmen, Handel und Investition, schwärmt: „Ich bin als Junge in Belfast aufgewachsen und unendlich stolz zu sehen, wohin es die Stadt gebracht hat. In den letzten zehn Jahren hat die Touristik Nordirland quasi neu entdeckt. Die Leute haben plötzlich festgestellt, dass sich ein kleines Paradies direkt vor ihrer Haustür befindet. Sie schätzen vor allem die facettenreiche Landschaft und die Aufgeschlossenheit der Iren.“
Diese Aufgeschlossenheit lernen die Besucher in Belfast schon nach wenigen Minuten kennen. Taxifahrer John spielt Folk-Musik, um die richtige Stimmung aufkommen zu lassen, scherzt über das irische Wetter – „Vier Jahreszeiten an einem Tag!“ – und begleitet seine Gäste sogar mit dem Regenschirm bis vor die Hoteltür, um sicher zu gehen, dass sie trocken ihr Ziel erreichen.
Von der Titanicbis Westeros
In den Pubs herrscht eine ausgelassene Stimmung, Menschen lachen und trinken gemeinsam. Auch die nordirische Küche hat sich stark verändert. „Früher bestand hier quasi alles aus Kartoffeln und Braten“, sagt der preisgekrönte Chefkoch Joery Castel, ursprünglich aus den Niederlanden, seit 14 Jahren an der nordirischen Küste wohnhaft. „Das hat sich in den letzten Jahren ziemlich verbessert. Die Leute reisen jetzt wieder mehr, bringen neue Ideen aus Frankreich, Spanien und so weiter mit. Das beeinflusst natürlich auch die eigenen Gerichte.“
Seit 2012 ist Belfast zudem Heimat einer ganz besonderen Touristenattraktion: dem Titanic Belfast-Gebäude, das den tragischen Luxusdampfer zu neuem Leben erweckt. Die Bezeichnung „Museum“ lehnt Ausstellungsführerin Einear Lewis strikt ab: „Das hier ist kein Museum, es ist ein Erlebnis.“ Und damit behält sie Recht: Die Ausstellung kombiniert gekonnt historische Ausstellungsstücke und Informationstafeln mit Videoprojektionen und Hologrammen, die sich über Wände und Böden erstrecken, sowie Sound- und Lasereffekten und interaktiven Touchscreens, auf denen das Wrack der Titanic erforscht werden kann. Aber auch Attraktionen wie das Ulster Museum, die Odyssey Arena oder das Große Opernhaus locken jährlich Touristen aus aller Welt in die nordirische Hauptstadt.
Drehorte der Serie „Game of Thrones“ besuchen
Nach dem Stadtbesuch erwartet die Besucher die nordirische Küstenseite – eine atemberaubende Kulisse, die in kürzester Zeit beinahe alle Landschaftstypen in sich vereint: Ist man gerade noch an einer steilen Klippe am Meer, so erstrecken sich bereits wenige Minuten später flache, saftige Grünflächen, auf denen Schafe friedlich grasen. Und wieder etwas später fährt man durch dichte Wälder und hohe Berge. Fans der Serie Game of Thrones werden einige Ecken womöglich wiedererkennen – ein Großteil der Serie wurde in Nordirland gedreht. Wer dem genauer auf den Grund gehen will, kann mittlerweile spezielle Bustouren buchen, die den wichtigsten Drehorten einen Besuch abstatten. Begleitet von einem Tourführer, der sich selbst bestens mit der Serie auskennt und auch für den einen oder anderen Schwatz zu haben ist, wohin es in Zukunft wohl mit der Serie gehen wird.
Die Leute erwarten Bomben
Trotz der positiven Entwicklung hat Nordirland nach wie vor mit Vorurteilen zu kämpfen. Beinahe 20 Jahre nach Kriegsende sehen immer noch viele das Land als Ort der Unruhen. „Ich hatte einmal Staatsbesuch aus China, und die waren total überrascht, dass ich in Belfast nicht mit 20 Bodyguards und schusssicherer Weste das Haus verlasse“, erzählt Jonathan Bell halb amüsiert, halb bekümmert.
Viele erwarten immer noch, dass sie in Belfast mit Bomben und Gewehren empfangen werden. Dabei ist die Stadt Statistiken zufolge die Sicherste in ganz Großbritannien. Aber solche Vorstellungen bekommt man eben nur schwer aus den Köpfen der Leute. Dass diese Vorurteile längst nicht mehr der Realität entsprechen, weiß jeder, der auch nur wenige Tage in der überschaubaren Hauptstadt verbracht hat.