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Kriminalität und Kultur: Unterwegs in Rios größter Favela

Kriminalität und Kultur: Unterwegs in Rios größter Favela

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Polizeioffiziere führen am 22.09.2017 einen Einsatz in der Favela „Rocinha“ in Rio de Janeiro (Brasilien) durch. Nach tagelangen Spannungen zwischen Banden und Sicherheitskräften kam es in der bei Touristen beliebten Favela kam es zu einem heftigen Gewaltausbruch. Foto: Leo Correa/AP/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++ Foto: dpa
Seit Olympia gibt es eine Sicherheitskrise in Rio de Janeiro. In der Favela Rocinha marschierte das Militär ein, Hotels leiden unter Gästeflaute.

Rio de Janeiro. 

Edmilson Cardoso wohnt seit 40 Jahren in der Rocinha, der größten Favela Rio de Janeiros. Sie steht für all die Faszination dieser Stadt: Musikerkarrieren begannen hier, es gibt gelebte Solidarität, buntes, kreatives Leben. Aber auch Drogen und Gewalt. Cardoso (58), der Möbelpacker ist, hat gerade viel zu tun. „Ich mache zehn Umzüge am Tag, manchmal mehr.“ Viele Bewohner wollen nur noch eins: weg.


Als Grund nennt Cardoso zum einen die Krise. 13 Millionen Brasilianer sind arbeitslos, Hilfen wurden gekürzt. Die Rocinha gilt eher als teure Favela, so sind die Gaspreise relativ hoch. Zum anderen ziehen die Menschen wegen der eskalierenden Gewalt weg, die der Rocinha und Rio weltweit Negativschlagzeilen beschert – 15 Monate nach und knapp dreieinhalb Jahre nach dem deutschen WM-Sieg im Maracanã.


Cardoso sitzt in einer Bar, erzählt von seinem Beruf, während fünf schwer bewaffnete Polizisten mit gezückten Gewehren und kugelsicheren Westen vorbeilaufen. Im Jahr nach Olympia breitet sich die Gewalt wie ein Krebsgeschwür aus – Sparmaßnahmen bei der Polizei und erstarkende Gangs gelten als die Hauptgründe.

Rückkehr der Drogenmafia

Aber auch das Ende einer Politik, die den Favelabewohnern die Hand reichte, wird dafür verantwortlich gemacht. So hatte es spezielle finanzielle Hilfen gegeben, Strom- und Wasseranschlüsse, Aufzüge und Seilbahnen waren gebaut worden, um die Armenviertel an den Hängen besser zu erschließen.


Der Rückzug des Staates geht einher mit der Rückkehr der Drogenmafia und dem Kampf um Einflussphären. Es gibt nun Überlegungen, wegen der vielen Schießereien Schulkindern die Blutgruppe auf die Uniformen drucken zu lassen. Nach Angaben des Portals „O Globo“ wurden in diesem Jahr bis Oktober in Rio 4300 Opfer mit Schusswunden behandelt.


Bis vor wenigen Wochen galt die Rocinha noch als eine Vorzeigefavela, US-Touristen ließen sich wie auf Safari in Jeeps herumfahren. Dann eskalierte ein Machtkampf zwischen zwei Drogenbaronen. „Rogério 157“ hatte zunehmend die Menschen gegen sich aufgebracht, sein großer Gegenspieler wurde der vorherige Chef der Drogengeschäfte in der Rocinha, Antônio Francisco Bonfim Lopes alias „Nem“.

Schusswechsel mit mehreren Opfern

Der hatte vor einigen Jahren seinen eigenen Tod samt Beerdigung vorgetäuscht, um der Polizei zu entkommen. Gefasst wurde „Nem“ trotzdem, „Rogério 157“ übernahm die Geschäfte.


Nun ordnete mutmaßlich „Nem“ aus dem Gefängnis einen Putschversuch gegen „Rogério 157“ und seine Leute an. Es kam tagelang zu heftigen Schusswechseln mit mehreren Opfern – das Militär marschierte mit rund 1000 Soldaten ein – Szenen wie im Krieg.


In der Bar sitzt neben Edmilson Cardoso Bernhard Weber alias „MC Gringo“. Der Schwabe ist seit 15 Jahren verliebt in Rio, acht Jahre davon lebte er in Favelas, auch hier in der Rocinha. „Ohne die Favela wäre ich nicht das, was ich bin.“ Hier begann seine Karriere als Rap-Musiker, immer wieder arbeitet er mit lokalen Größen zusammen.


„Als Ausländer, wenn das Geld knapp wird, stehst Du vor der Frage: zurück in die Heimat oder in die Favela, wo Miete, Strom und Wasser kaum was kosten“, sagt der 48-Jährige. Auch der frühere Hamburger Innensenator Ronald Schill lebt in einem Armenviertel, in Pavão-Pavãozinho, oberhalb von Copacabana. Über 500 Stufen sind es bis zu seiner Wohnung.

Schlagzeilen verfehlen ihre Wirkung nicht

Trotz allem hat „Gringo“, der auch als Touristenführer arbeitet, weiter Zulauf bei seinen Touren durch die Rocinha. Er macht keine Jeep-Safaris, ihm geht es um die Menschen, die Geschichten, die Vielfalt. Er hat auch schon Ex-Nationalspieler Kevin Kurányi und den langjährigen IG-Metall-Chef Berthold Huber in der Rocinha herumgeführt. „Mir ist es wichtig, Freude zu zeigen.“


„MC Gringo“ wehrt sich gegen das Bild einer Stadt im Chaos, denn in Vierteln wie Copacabana – oder auch an diesem Tag in der Rocinha – ist die Situation die meiste Zeit entspannt. 45.000 Häuser sind hier an die Hänge gebaut worden, zwischen den noblen Strandvierteln Leblon und São Conrado. Die Zahl der Einwohner wird mit 70.000 angegeben, es könnten aber auch über 200.000 sein, meint Weber. Das Wahrzeichen ist eine Brücke von Architekt Oscar Niemeyer, die eine Straße überspannt. Mitten hindurch fließt vom Hang herab ein offener Wasserkanal, der Valão, es stinkt – die trübe Brühe wird direkt ins Meer geleitet.


Im ersten Halbjahr gab es im Bundesstaat Rio de Janeiro 2723 Morde, ein Plus von 10,2 Prozent. Die Schlagzeilen, auch aus der Rocinha, verfehlen ihre Wirkung nicht. Vor kurzem wurde in den sozialen Medien eine Präsentation einer Bank verbreitet – dort gab es zwei Kurven. Die rote mit der Zahl der Morde ging steil nach oben, die blaue mit der Touristenzahl und Hotelauslastung steil nach unten. Von 2009 bis 2016 stieg die Bettenzahl von 29.000 auf 60.000. Das Ziel lautete, 25 Prozent mehr Touristen bis 2021 im Vergleich zur Zeit vor Olympia. Man setzte auf einen Effekt wie nach den Spielen in Barcelona 1992, als die katalanische Metropole zum neuen Touristenmagneten wurde.

„Der Tourismus wird weitergehen“

„Wir hatten vor der Ausweitung einen Schnitt bei der Auslastung von 70 Prozent“, sagt der Präsident der Hoteliervereinigung, Alfredo Lopes. Nun – bei mehr Betten – sind es nur noch 50 Prozent. Mehrere Hotels haben bereits geschlossen. Dennoch glaubt Weber alias „MC Gringo“ – wie Möbelpacker Cardoso – an eine bessere Zukunft in Rio.


Und er glaubt vor allem an die Menschen in der Rocinha. Sein aktueller Song heißt: „Amigos valem mais do que dinheiro“ („Freunde zählen mehr als Geld“). „Favela ist nicht Problem, sondern Lösung“, sagt Weber. Wenn man woanders durch das soziale Netz falle, werde man hier aufgefangen, weil zur Not umsonst Strom abgezapft werden kann.


„Der Tourismus wird weitergehen.“ Er glaubt nicht an den befürchteten völligen Kontrollverlust. Wer nach Rio komme, müsse in die Favela, auch um Klischees zu überwinden. Copacabana sei nur eine „schöne Illusion“. „Das echte Brasilien ist hier, in der Rocinha.“ (dpa)