Weihnachten in Stockholm ist stiller und stilvoller. Adventskalender sind hier lebendig, Weihnachtsmärkte musikfrei und Kirchenchöre multikulti.
Stockholm.
Ist es denkbar, dass sich knapp eine Million Menschen auf eine gemeinsame Weihnachtsdekoration einigen? Wenn man zum ersten Mal in der Adventszeit nach Stockholm kommt, hat man den Eindruck, dass dem so ist. Es gibt so gut wie kein Fenster ohne Kerzenleuchter. Und alle sind ähnlich: eine Kerze unten, eine etwas höher und wieder eine unten. Alle verbreiten das gleiche weiße Licht – bunte sind nirgends zu entdecken. Dazu kommen hier und da weiße Sterne, alles ganz schlicht. Weil die ganze Stadt damit illuminiert ist, überwältigt einen die Wirkung.
An den kurzen Dezembertagen sehnen sich die Schweden nach Licht, und gleichzeitig haben sie das Hauptmerkmal des skandinavischen Designs – Klarheit – von klein auf verinnerlicht. Eine der wenigen Extravaganzen ist eine aus zahllosen Lichtern bestehende Elchherde auf dem Nybroplan zwischen Hafen und Promeniermeile.
Das Leuchten in der Dunkelheit
Stockholm ist in der Weihnachtszeit eine verzauberte Stadt. Es beginnt schon, kurz nachdem man am Flughafen das Taxi bestiegen hat. Auf der abendlichen Autobahn gibt es nicht viel Verkehr. Der Wagen gleitet durch eine schneebedeckte Landschaft. Es dauert etwa 20 Minuten, ehe die ersten Gebäude der Hauptstadt auftauchen. Die Fenster leuchten in der Dunkelheit, alles sieht sehr aufgeräumt aus. Und obwohl das Taxi immer noch über die Autobahn fährt, liegt eine merkwürdige Stille über dem Ganzen.
Von der Brücke über den Riddarfjärden, eine Bucht des vielarmigen Mälarsees, geht der Blick zum ersten Mal auf die Lichter des Zentrums. Wenig später nimmt das Taxi die Ausfahrt ins Stadtviertel Södermalm. Der einstige Arbeiterbezirk gilt seit Jahren als trendiges Wohn- und Ausgehquartier, aber an diesem Dezemberabend unter der Woche wirkt es wie ausgestorben. Sobald man den Kopf rausstreckt, weiß man, warum: Es ist saukalt. Das heißt aber nicht, dass alle daheim vor dem Fernseher sitzen. Um sich davon zu überzeugen, muss man nur das Restaurant an der nächsten Ecke aufsuchen. Es ist gefüllt bis auf den letzten Platz, und das an einem Werktag.
Gamla Stan – Stockholms Keimzelle
Am nächsten Morgen geht es früh raus, das wenige Tageslicht nutzen. Im Winter ist es in Stockholm nur etwa sechs Stunden richtig hell von, 9.00 Uhr bis 15.00 Uhr. An diesem Morgen ist der Himmel blank geputzt, ein gleißendes nordisches Licht leuchtet die Stadt bis in den letzten Winkel aus.
U-Bahn-Station Gamla Stan. Die Altstadt, eine der am besten erhaltenen Europas, erhebt sich auf einer Insel, deren Ufer einst gleichbedeutend waren mit den Grenzen der Stadt. Stockholms Keimzelle liegt nicht am Wasser, sondern auf dem Wasser. Das goldene Morgenlicht spiegelt sich in den Fenstern der Giebelhäuser. Wenn Schnee liegt und lange Eiszapfen vor den Butzenscheiben hängen, ist dies das perfekte Wintermärchen.
Immer wieder biegt eine Kindergartengruppe um die Ecke. Kälte ist hier offenbar kein Grund, um drinnen zu bleiben: Die Schweden sind ein Naturvolk, sie müssen raus. Bei jedem Wetter. Vor dem Königlichen Schloss harrt ein Wachposten aus, er wirkt wie der standhafte Zinnsoldat aus Andersens Märchen, nur steht dieser auf zwei Beinen. In London dürfen sich die Bärenfellmützenträger nicht rühren, hier in Skandinavien ist das anders. „Wie lange müssen Sie noch?“ – „Eine halbe Stunde, dann hab ich’s geschafft!“
Wirkliche Stille statt „Stille Nacht“
Da hat der Besucher es besser, er kann jederzeit ins Café abtauchen. Wenn man dort erst einmal ein paar Zimtschnecken oder ein Stück warmen Apfelkuchen mit Vanillesoße vertilgt hat, ist man schon langsam in Pfefferkuchenstimmung. Danach öffnen die Stände des Weihnachtsmarkts auf dem Stortorget, einem kleinen Marktplatz in der Mitte der Altstadt, eingerahmt von Puppenhäusern, wie es scheint. Es waren Hanse-Kaufleute, die hier im 16. Jahrhundert so hübsch gebaut haben. Im Vergleich zu deutschen Weihnachtsmärkten fällt ein wesentlicher Unterschied auf: Es dudelt kein „Stille Nacht“ aus irgendwelchen Lautsprechern – es ist wirklich still. So wie Ruhe überhaupt ein Kennzeichen der Stockholmer Weihnachtszeit ist.
An den Ständen gibt es das übliche Angebot, wobei man sich eine Sache nicht entgehen lassen darf: den schwedischen Glühwein – den Glögg. Sein niedriger Alkoholgehalt von gerade einmal zwei Prozent ist den strengen schwedischen Vorschriften geschuldet. Eine Besonderheit sind die eingestreuten Mandeln und Rosinen, die am Ende auf dem Tassenboden zurückbleiben. „Nelken und Zimt sind auch noch mit drin“, verrät der Österreicher Helfried Gafgo, 76, der hier seit vielen Jahren seinen Glögg nach eigener Rezeptur anbietet.
Multikulti im Kirchenchor
Der höchste Punkt der Stockholmer Altstadt ist die Turmspitze der Tyska kyrka, der deutschen Kirche. Fast 100 Meter ist der Turm hoch, beinahe etwas überdimensioniert, so dass sich das recht kurze Kirchengebäude wie ein Schneckenhaus daran anschmiegt. Bis heute ist die Barockkirche Sitz einer deutschen Gemeinde. Am Nachmittag wird hier das Krippenspiel geprobt, und aus den oberen Stockwerken des Pfarrhauses erklingen vertraute Lieder: „Nun soll es werden Friede auf Erden…“
In den fünf Kirchenchören der Gemeinde singen außer Protestanten auch Katholiken, Juden, Muslime und Atheisten. Yasser Alabd, ein 23 Jahre alter Flüchtling aus Aleppo, hat im vergangenen Jahr das Weihnachtsoratorium mitgesungen. „Einige Leute meinen, ein Muslim sollte das nicht tun, aber mir ist das egal“, sagt er ernst. „In meiner Religion ist Jesus ein Prophet. Kein Problem also.“
Chorleiter, Kantor und Organist Michael Dierks, 47, könnte mit seinen blonden Haaren und blauen Augen auch als Schwede durchgehen. „Musik und Licht sind hier extrem wichtig“, sagt er. „Wir haben bei uns 15 Konzerte in der Adventszeit, und die sind locker ausverkauft.“
Königlicher Besuch in der Kirche zu Weihnachten
Mittwochs um 15.30 Uhr lässt Dierks das Glockenspiel des Kirchturms erklingen, das älteste von ganz Skandinavien. „Wenn dann noch Schnee liegt, sind die Töne ganz gedämpft, dann spielt man wie in eine Wolldecke hinein. Wunderschön! Ich liebe das.“ Manche Chormitglieder kommen auf Schlittschuhen über den zugefrorenen Mälarsee zur Probe.
An Heiligabend besucht Königin Silvia den Gottesdienst in der deutschen Kirche. Sie sitzt nie in der ersten Reihe, immer in der dritten oder vierten, denn sie kommt als Privatperson und will bloß keine Sonderbehandlung. Traditionell ist in Schweden aber eher der Frühgottesdienst am Ersten Weihnachtstag von Bedeutung. Michael Dierks erklärt das damit, dass die Bauern in abgelegenen Gebieten früher oft die ganze Weihnachtsnacht hindurch bis zur nächsten Kirche gewandert sind, nachdem sie das Vieh versorgt hatten.
Lucia bringt das Licht
Wichtige Feiertage sind zudem der Erste Advent und der Lucia-Tag: Immer am 13. Dezember versammeln sich die Kinder früh morgens im Kindergarten oder in der Schule. Erwartungsvolle Stille. Dann – eine Stimme. Die Heilige Lucia singt ihre getragen-melancholischen Lieder. Plötzlich wird die Dunkelheit vom Schein ihrer Lichterkrone erhellt. Gefolgt von Mädchen in langen weißen Gewändern und Jungen mit sternverzierten Hüten tritt sie ein. Lucia bringt das Licht – ein feierlicher Moment.
17.00 Uhr. Karin Häggmark, gebürtige Münchnerin, aber seit vielen Jahren in Schweden verheiratet, klärt deutsche Touristen in der Gamla Stan über Weihnachtsbräuche in ihrer Wahlheimat auf. „Weihnachten hat hier einen anderen Charakter als in Deutschland, Österreich oder der Schweiz“, erzählt sie. „Es ist fröhlicher.“ Das beginnt damit, dass sich die Familie an Heiligabend um 15.00 Uhr traditionell vor dem Fernseher versammelt, um Kalle Anka – Donald Duck – zu schauen. Warum Donald Duck? Aus dem gleichen Grund, aus dem man in Deutschland an Silvester „Dinner for One“ schaut: Weil’s immer schon so war.
Dann kommt der Weihnachtsmann, der Jultomte, und bringt die Geschenke, die idealerweise mit einem kleinen Reim versehen sind. Anschließend ist es Zeit für das Weihnachtsessen, das keineswegs vornehm ausfällt: Fisch, Fleischklößchen, Schinken und Rentierwurst kommen auf den Tisch. Am Ende gibt es Milchreis. Eine Schüssel davon muss immer für den Hofgeist, den Tomte, rausgestellt werden, der übrigens auch in Stockholms Schaufenstern allgegenwärtig ist. Danach tanzen alle um den Baum und singen Weihnachtslieder, die in Schweden zum Beispiel so gehen: „Kleine Frösche, kleine Frösche sind lustig anzuschaun. Sie haben keine Ohren, sie haben keine Schwänze. Quak, quak, quak.“ Nein, mit „Stille Nacht“ hat das eher nichts zu tun.
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Draußen zeigen jetzt brennende Fackeln an, wo ein Restaurant geöffnet hat. Karin Häggmark eilt mit ihren Gästen zum „Lebenden Adventskalender“: Jeden Tag öffnet sich ein anderes Fenster der Altstadt zu einer kurzen musikalischen Darbietung oder einer kleinen Lesung, die vorzugsweise lustig ausfällt. Für die Zuschauer kann es sehr kalt werden, aber die Aussicht auf ein sicherlich sehr reichhaltiges Abendessen hilft darüber hinweg. Die Chancen stehen gut, dass man sich am Ende dieses Tages Astrid Lindgrens Bullerbü-Weisheit anschließen wird: „Eigentlich ist es schade, dass nicht ein bisschen öfter Weihnachten ist.“
>>> Info
Anreise und Formalitäten: Deutsche Urlauber brauchen für die Einreise nach Schweden nur einen gültigen Personalausweis. Nonstop-Flüge gibt es von mehreren deutschen Flughäfen.
Währung: Für einen Euro bekommt man etwa 9,57 schwedische Kronen (Stand: Oktober 2017).