Die Bilder der Alpin-Heroen gingen damals um die ganze Welt: Vor genau 75 Jahren gelang einem Bergsteigerquartett aus Deutschland und Österreich der Erstdurchstieg der Eiger Nordwand. Doch die Geschichte des Berges kennt auch zahlreiche Tragödien und brachte ihr den zweifelhaften Ruf als „Mordwand“ ein.
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Der Blick bleibt gebannt auf den Monitor der Kameras gerichtet. Eine berühmte Felswand ist der Blickfang für japanische Touristengruppen auf der Bahnfahrt von Grindelwald über Kleine Scheidegg zum Jungfraujoch. Millionenfach fotografiert. Der Mythos der Eiger Nordwand lebt. Anlässlich des Erstdurchstiegs vor genau 75 Jahren feiert der Touristenmagnet Grindelwald das alpine Großereignis.
Das „letzte Problem der Alpen“ wurde durch das Bergsteiger-Quartett Anderl Heckmair und Ludwig Vörg aus Deutschland sowie Fritz Kasparek und und Heinrich Harrer aus Österreich an vier Tagen im Juli 1938 erstmals erfolgreich geknackt. Befeuert durch die Propaganda-Maschinerie des Deutschen Reiches. Die Aufnahmen der strahlenden Alpin-Heroen gingen um die ganze Welt.
Verhängnisvolle Wetterumschwünge am Eiger sind berüchtigt
Mindestens genauso bekannt sind auch die Tragödien am Eiger. Das Schicksal der Deutschen Toni Kurz und Andi Hinterstoisser sowie Edi Rainer und Willy Angerer aus Österreich zählt zu den großen Berg-Legenden, die dem 1800 Meter hohen Fels- und Eisgebilde den zweifelhaften Ruf als „Mordwand“ einbrachten.
„Wenn die Wand zu machen ist, machen wir sie – oder bleiben drin!“ Diese kompromisslose Ansage der Österreicher sollte sich auf brutale Weise bewahrheiten. Sie blieben „drin“. Ihr dramatischer Überlebenskampf ist zuletzt in dem Erfolgsstreifen „Nordwand“ inszeniert worden. Und weil jeder Bergfreund die Tragödie aus dem Jahr 1936 kennt, zuckt der Kino-Zuschauer zusammen, wenn Andi Hinterstoisser nach einem akrobatischen Pendel-Quergang in der Vertikalen, der noch heute nach ihm benannt ist, das Seil abzieht – und sich damit jeder Rückzugsmöglichkeit beraubt.
Der Eiger ist berüchtigt für verhängnisvolle Wetterumschwünge. „Morgens noch Sonne, nachmittags Schnee“, sagt der Speed-Kletterer Dani Arnold, der den Geschwindigkeitsrekord heute mit zwei Stunden und 28 Minuten für den Durchstieg hält. „Das macht die Eiger Nordwand so interessant.“ Für Toni Kurz und Co wurde der Wetterumschwung zur Todesfalle.
Die Nordwand ist nichts für Hallen-Kletterer
Drei der Eiger-Aspiranten starben am dritten Tag in der Wand durch Lawinen, Steinschlag und Erschöpfung. Ein Streckenposten hörte den um Hilfe schreienden Toni Kurz am Stollenloch der Jungfraubahn und alarmierte die Bergrettung. Die war noch nicht so professionell aufgestellt wie heute. So kam am vierten Tag ein Seil zum Einsatz, das zu kurz war und deshalb zusammen geknotet werden musste. Mit letzter Kraft hatte es der völlig erschöpfte Toni Kurz zu sich heraufziehen können, indem er die Litzen seines Hanfseiles mit dem Mund und einer Hand auftrennte und verband. Doch als der Knoten beim Abseilen im Karabiner blockierte, hatte der Bergsteiger nicht mehr die Kraft, seinen Körper am Seil hochzuziehen und den Knoten zu überwinden. „Ich schaff’s nicht mehr“, waren seine letzten Worte, nur wenige Meter vor den machtlosen Rettern. Das Foto des bizarr verdreht am Seil hängenden Toni Kurz ging um die ganze Welt.
„Schwalbennest“, „Eisschlauch“, „Todesbiwak“, „Bügeleisen“ und „Weiße Spinne“ – das sind die allegorischen Begriffe für markante Passagen in der Nordwand. Senkrechte Felskamine, steile Risse, heikle Platten, mürbes Eis. Nichts für Hallen-Kletterer. Der Klimawandel und abtauender Permafrost mit Salven von Steinschlag lassen jetzt jeden verantwortungsvollen Bergsteiger von Sommerbegehungen abraten.
Der Eiger verzeiht keinen Fehler
„Die Nordwand hat nichts von ihrem Nimbus und ihrer Ernsthaftigkeit verloren.“ Das sagen die vier Extrem-Bergsteiger Dani Arnold, Stephan Siegrist, Ueli Steck und Roger Schäli, die anlässlich des 75-Jahr-Jubiläums am Wandfuß über den Eiger philosophieren. Sie erteilen einem Wettrennen um die beste Zeit eine klare Absage. Weitere Speed-Versuche seien ein Spiel mit dem eigenen Leben. Über 50 Bergsteiger haben bereits ihr Leben an der Wand gelassen. „Der Eiger verzeiht keinen Fehler“, sagt der Chef der Schweizer Rettungsflieger-Staffel Rega und erinnert an die letzten Opfer: zwei junge Männer, die vor drei Jahren vom Wetterumschwung und einem Meter Neuschnee überrascht wurden. „Aber“, so die Rega, „wir sind Retter und keine Richter“. Mit ausgeklügelten Methoden holen sie heute verunglückte Alpinisten mit einer 200 Meter langen Rettungsleine unterm Helikopter aus der senkrechten Falle. Dann werden die Fernrohre und Kameras wieder auf die schattige Nordwand gerichtet – von der Kleinen Scheidegg und von Grindelwald.
Für Grindelwald ist der Berg ein Marketingfaktor. Tourismus-Chef Bruno Hauswirth bringt es auf den Punkt: „Der Eiger ist für uns mehr als ein Berg. Er ist ein Identifikationsmerkmal.“ 1999 erzielte die Live-Übertragung eines Nordwand-Durchstiegs höchste Einschaltquoten nicht nur im Schweizer Fernsehen.