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Auf Tour im rollenden Hotel

Auf Tour im rollenden Hotel

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Foto: MSG

Der Kabinenbus wird 50 Jahre alt – Vom Schlafen im „Brutkasten” und dem Kampf gegen Moskitos

Möglicherweise habe ich gerade meine Großmutter erschlagen. Aber in diesem Moment ist mir das völlig egal. Augenblicklich rückt Nachschub von Omas Artgenossen an – Moskitos. Ich ergebe mich meinem Schicksal, Gegenwehr ist aussichtslos. Zumal mein Bewegungsspielraum stark eingeschränkt ist. Er bemisst sich auf 65 mal 70 mal 190 Zentimeter. So groß sind hier die Schlafzimmer.

Wir sind unterwegs in Nordindien. Von Reiseleiter Hermann haben wir bereits am ersten Tag gelernt, dass verstorbene Angehörige nach hinduistischem Glauben durchaus als Moskito wiedergeboren werden können. Was das Erlegen der Plagegeister außerdem erschwert: Bei jedem Schlag gegen die Wand könnte man seinen Nachbarn zu Tode erschrecken, der ja nur zwei Zentimeter Luftlinie weiter neben, unter und/oder über einem liegt.

18 Leute sind auf Tour mit einem „Rollenden Hotel”, kurz Rotel genannt. Rotel ist eine Form des Reisens, die der Bayer Georg Höltl Ende der 50er Jahre erfand: Ein „Rollendes Hotel” ist ein Anhänger mit Schlafkabinen. Dieser Schlafanhänger wird von einem Bus mit ebenso vielen Sitzplätzen gezogen, zu fast allen erdenklichen Reisezielen in der Welt. Bei unserer „kleinen” Rotel-Variante für bis zu 20 Teilnehmer sind die Kabinen direkt im hinteren Teil des zwölf Meter langen Busses montiert.

Als in Neu Dehli die Klappen unseres Rotels geöffnet werden trennt sich binnen Sekunden die Spreu vom Weizen, sprich die erfahrenen „Rotelianer” von den Neulingen. Ingeborg erstickt fast an ihrem Lachanfall, einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Verzweiflung, als die Vorhänge zu den Kabinen aufgezogen werden. „Das ist ja kaum größer als ein Sarg.” Die einzelnen Kabinen sind nicht breiter als sie in den Hüften ist. Die anderen Neulinge murmeln beim Anblick der Schlafgemächer Worte wie „Karnickelstall” oder „Brutkasten”. Die erfahrenen Rotelianer lächeln gelassen: „Das ist viel bequemer, als es auf den ersten Blick aussieht.”

Reiseleiter Hermann verteilt die Plätze – so weit es geht demokratisch. Anders als bei der festgelegten Sitzordnung vorne im Bus – wer früher bucht, darf am Fenster sitzen – dürfen die Teilnehmer diesmal ihre Wünsche äußern. Die beliebtesten Kabinen sind offensichtlich die auf der mittleren hüfthohen Ebene, in die man ohne große Anstrengung vorwärts hineinkrabbeln kann. Mit Anfang vierzig bei weitem der jüngste der Gruppe, muss ich nach ganz oben. Am Kopfende befindet sich ein DIN A4-großes Fensterchen, das man in der Hoffnung auf etwas Durchzug nachts aufklappen kann. Gleichzeitig ist es aber auch eine gute Einfallsmöglichkeit für kleinwüchsiges Getier. Das Moskitonetz kann mühelos seitlich umflogen werden. Was aber eigentlich egal ist: Der Vorhang am Fußende stellt ein noch geringeres Hindernis dar.

Die erste Nacht ist gleich eine richtige Herausforderung – nicht nur für die unerfahrenen Teilnehmer. Nach tagsüber mehr als vierzig Grad sind die Kabinen in der Nacht noch ordentlich aufgeheizt. Durchzug, Ventilator, Klimaanlage – Fehlanzeige. Nackt und verschwitzt starre ich an die Decke und hoffe, dass diese Nacht bald vorbei sein möge. Zwischendurch erlege ich ein paar Moskitos, die langsamen vollgefressenen. Am nächsten Morgen wird das gesamte Ausmaß der Angriffe deutlich. Wo man hinschaut beim gemeinschaftlichen Anziehen auf der Rampe: dicke Flatschen an Waden, Schenkeln und Unterarmen.

Neuling Klaus kapituliert

Eine Reise mit Rotel ist eine Mischung aus Klassenfahrt und Campingurlaub. Der Altersdurchschnitt der Reisegäste liegt allerdings deutlich über Mitte 50. Bereitschaft zu Geselligkeit ist unabdingbar. Wenn keine Besichtigungen auf dem Programm stehen, ist der Bus der unangefochtene Lebensmittelpunkt der Gruppe. Für gute Laune und positive Gruppendynamik sorgt Klaus, der nicht nur Fahrer, sondern auch unser Koch ist. Die Klappe am Heck heruntergeklappt – fertig ist sein morgendlicher und abendlicher Arbeitsplatz. Alle packen mit an: Gemeinsam werden Tische und Stühle aufgebaut, Gemüse geschnippelt und die großen Töpfe abgespült. Für sein Tellerchen ist jeder selbst verantwortlich. Zusammen mit dem Besteck hat jeder am ersten Tag sein persönliches Essensgeschirr im roten Nylonbeutel ausgehändigt bekommen.

Wo möglich, fährt Rotel zum Übernachten abends einen Campingplatz an. Solche Einrichtungen sind in Nordindien allerdings unbekannt. Darum wird der Bus in diesem Land nächtens auf den Grundstücken von Hotels geparkt. Das kann mal ein beeindruckender Innenhof eines ehemaligen Maharadschapalastes sein, mal ein Schotterparkplatz neben einer stark befahrenen Hauptstraße. Rotel-Reisende nehmen solche kleinen und großen Überraschungen gelassen: Sie sind weitgereist und haben fast alle die ganze Welt gesehen: Iran, Australien, Vietnam, Norwegen, USA. . .

„Das muss ich nicht haben.” Neuling Klaus kapituliert nach der ersten Nacht. Ab der zweiten nimmt er sich abends immer ein Hotelzimmer. Christoph zieht einen Tag später nach. Für Routinier Hans ist ein solches Verhalten nicht nachvollziehbar: „Wo ist das Problem?” Er ist seit fast vier Jahrzehnten überzeugter Rotelianer, war 1969 bei der ersten Sahara-Durchquerung dabei. „Mit Rotel sieht man mehr als mit anderen Veranstaltern und das für weniger Geld”, sagt Hans. Tatsächlich hat es das tägliche Besichtigungsprogramm in sich, fünf Führungen pro Tag sind keine Seltenheit. Während der Fahrten zwischen den einzelnen Sehenswürdigkeiten referiert Reiseleiter Hermann ausführlich über die folgende und bei längeren Überlandfahrten über Sitten und Gebräuche in Indien im Allgemeinen. Bei Zwischenstopps in kleinen Dörfern scharen sich binnen Sekunden Dutzende Menschen um das monströse Gefährt und staunen. Noch mehr, wenn ihnen die Reisenden erzählen, wo sie übernachten.

1616 Kilometer stehen am Ende der knapp zwei Wochen Nordindien auf dem Tachometer. Am Ende resümiert Otwin: „Es war wieder einmal eine schöne Reise. Mal schauen, wie lange es dauert, bis ich mich wieder an mein Bett gewöhnt habe.“