Eine der berühmtesten Adressen Londons ist wohl die Baker Street 221b – hier spielten einst die Geschichten des Meisterdetektivs Sherlock Holmes und seines Kompagnons Dr. Watson. Aber nicht nur im dortigen Museum, sondern überall in der Stadt lassen sich Spuren des genialen Kriminalers finden.
London.
Eine echte Metropole erkennt man unter anderem daran, dass es dort vor einigen Sehenswürdigkeiten jeden Tag Warteschlangen gibt. Eine solche Attraktion ist das Sherlock-Holmes-Museum in London. „Mama, die stehen hier immer“, sagt ein kleines Mädchen in Schuluniform, das hinter seiner Mutter hergezogen wird.
In der Schlange selbst fragt ein Junge: „Ist der da drin auch gestorben?“ Antwort des Vaters: „Er hat da gewohnt, ob er da auch gestorben ist, weiß ich nicht.“ Eine Umfrage ergab 2010: 60 Prozent der Briten sind davon überzeugt, dass Sherlock Holmes wirklich gelebt hat. Viele Menschen gehen sogar davon aus, dass er heute noch lebt: Jede Woche erhält das Museum etwa 70 an den Detektiv gerichtete Briefe. Nicht wenige Absender suchen kriminologischen Rat. „Das größte aller Sherlock-Holmes-Rätsel ist wahrscheinlich dieses“, meinte schon der Literaturnobelpreisträger T.S. Eliot, „dass wir beim Reden über ihn unweigerlich dem Glauben erliegen, er habe existiert.“
Als wäre Holmes nur mal kurz raus
Das Museum dementiert dies nicht wirklich. Auf der Webseite heißt es: „Besucher fragen oft, ob Sherlock Holmes und Dr. Watson wirklich in diesem Haus gewohnt haben, aber leider fehlen amtliche Dokumente über die Mieter, die hier in viktorianischer Zeit gewohnt haben.“ An der Hausfront prangt die typische blaue Plakette, die in London alle ehemaligen Wohnsitze bedeutender Persönlichkeiten kennzeichnet. Nur wer genau liest, bemerkt, dass die übliche Formulierung „Here lived…“ vermieden wird. Stattdessen steht da: „221b Sherlock Holmes – Consulting Detective 1881-1904“.
Die Einrichtung ist dazu angetan, letzte Zweifel zu zerstreuen. Vor allem die Wohnung im ersten Stock sieht aus, als sei Holmes nur mal kurz raus, frisches Opium holen – schließlich war er bekennender Drogenkonsument („Mir bleibt immer noch die Kokainflasche“). Im Kamin knistert ein Feuer. Auf Kommoden und Tischen stapeln sich Nachschlagewerke, Aufzeichnungen, Waffen.
Eine Bronzestatue ziert die U-Bahn-Station
Im zweiten Stock wird es exzentrisch. Unvermittelt blickt der Besucher Professor Moriarty ins Glasauge. In der Geschichte „Das letzte Problem“ stürzt der „Napoleon des Verbrechens“ zusammen mit Holmes in den schweizerischen Reichenbachfällen zu Tode. Hier ist er nun wieder auferstanden – als Wachsfigur.
InfoDas überraschendste Ausstellungsstück ist ohne Zweifel der mächtige ausgestopfte Kopf des Hundes von Baskerville, der Holmes‘ berühmtestem Fall seinen Namen gab. Fürchten kann man sich nicht vor ihm, dafür hat er zu traurige Augen. Was kann danach noch kommen? Holmes‘ Wasserklosett – direkt unterm Dach! Demnach hätte Holmes tatsächlich menschliche Bedürfnisse gehabt. Stilisiert und überhöht erlebt man ihn dagegen vor der U-Bahn-Station Baker Street: Seit 1999 erhebt sich dort eine Bronzestatue des genialen Kriminalers mit Pfeife, Cape und Kappe.
Holmes-Touren führen Besucher durch London
Es gibt in London viele solcher Punkte, die in irgendeiner Form mit Holmes in Verbindung stehen. Mehrere Touristenführer haben sich darauf spezialisiert. So gibt es den literarisch-historisch ausgerichteten Sherlock-Holmes-Walk und die Sherlock-Holmes-Tour, die sich eher auf Drehorte konzentriert. Für beide Spaziergänge sind gute Englischkenntnisse erforderlich, zumal die Führer mitten im Getümmel der Stadt nicht immer leicht zu verstehen sind.
„Wer hat alle Sherlock-Holmes-Geschichten gelesen?“ Mit dieser Frage pflegt Richard seinen Walk durch das West End einzuleiten. Sechs Hände gehen diesmal in die Luft, das ist etwa ein Drittel der Teilnehmer.
Richards lotst seine Gruppe quer durch das Theaterviertel. Vor der Oper in Covent Garden überrascht er mit der Mitteilung, dass Holmes für deutsche Musik schwärmte. Der stimmungsvollste Ort, an den Richard seine Holmes-Pilger führt, ist Godwin’s Court, ein Innenhof, der immer wieder als Drehort für Kostümfilme dient. Hier stimmt einfach alles: dunkle Backsteinfassaden, polierte schwarze Türen, Gaslampen. Wobei das schon bei Erscheinen der Holmes-Geschichten pure Nostalgie war. Denn bereits in den 1890er Jahren verfügte London über eine elektrische Straßenbeleuchtung.
Vom Ruß des Industriezeitalters ist nichts mehr zu sehen
Der Spaziergang endet in der Nähe des Parlaments im Sherlock-Holmes-Pub, der mit seinen zahlreichen Memorabilia schon fast ein eigenes Museum darstellt. Ganz in der Nähe befindet sich die alte Zentrale von Scotland Yard, in der sich heute Abgeordnetenbüros befinden.
Vielleicht sollte man danach auf der Themse-Promenade am Südufer des Flusses zur Tower Bridge schlendern. Wer Guy Ritchies Sherlock-Holmes-Film mit Robert Downey Jr. gesehen hat, wird sich an die Schlussszene erinnern, die die Brücke 1894 in ihrer Konstruktionsphase zeigt. Vom Ruß des Industriezeitalters ist heute nichts mehr zu sehen, die gesäuberte Brücke wirkt freundlich und wird von glitzernden Bürotürmen eingerahmt. Ist dies wirklich die Krimi-Kulisse, die man aus so vielen Filmen kennt? Am Ende eines Sherlock-Holmes-Tags ist es bezeichnenderweise die Wirklichkeit, an der man zu zweifeln beginnt. (dpa)