5000 Menschen kämpfen die Schlacht von Waterloo vor Brüssel
Vor den Toren Brüssels lassen uniformierte Bürger aus ganz Europa alle zehn Jahre die Schlacht von Waterloo wieder aufleben – mit Liebe zum Detail.
Brüssel.
Hoch zu Ross inspiziert Napoleon, der Kaiser der Franzosen, die Front. Zu Hunderten sind seine Soldaten in den Feldern vor den Toren Brüssels in Stellung gegangen. Auch die alliierten Truppen auf der anderen Seite, das Heer General Wellingtons, sind kampfbereit, verstecken sich allerdings noch hinter Büschen und Bäumen. Immer wieder donnern Salven über das Gelände.
Auf Tribünen und Stehplätzen verfolgen Zehntausende die Schlacht, den Kampf der Franzosen gegen die Truppen aus England, Preußen und den Niederlanden. Alle zehn Jahre lebt die Schlacht von Waterloo groß auf, stellen 5000 uniformierte Bürger aus ganz Europa den Kampf nach, der vor genau 200 Jahren Europas Geschichte entscheidend beeinflusste. Schon an den Vortagen beziehen die Kämpfer ihre Feldlager. Die Franzosen in Genappe, Napoleons letztem Hauptquartier, die Alliierten rund um das Schloss Hougoumont. Die Region verwandelt sich in ein militärhistorisches Woodstock.
„Reenactment mit Liebe zum Detail“
Es lodern die Lagerfeuer, brutzelt das Fleisch auf dem Grill vor den Zelten. Trompeten rufen zum Truppenappell, Marketenderinnen nähen fehlende Knöpfe an Uniformen. Andere reinigen Kanonenrohre, bringen Munition und Waffen in Stellung. Das alles ist öffentlich, wer will, kann sich zu den Militärs gesellen, mit ihnen über die Vergangenheit plaudern – sogar mit Napoleon oder Wellington, den großen Kriegsstrategen. Dutzende von Gruppen spielen so ein Stück Geschichte nach, Napoleons letzte Schlacht. „Reenactment“ heißt das im Fachjargon. Von der Kanone bis zum Kochtopf stimmen die Details, sind die Uniformen originalgetreu nachgeschneidert. Auch bei der Nachstellung der Schlacht legt man Wert auf Genauigkeit, bollert und kracht es nicht wahllos in den Feldern. Anders als vor 200 Jahren aber stehen sich die Kombattanten heute nicht als Feinde, sondern als geschichtsbewusste Freunde gegenüber. So stecken Franzosen in englischen Uniformen, Deutsche in den Klamotten napoleonischer Kämpfer.
Wie das einst mit der medizinischen Versorgung gewesen wäre, will ein Lagerbesucher von einem Feldscher wissen, der vor seinem Zelt alte Chirurgiepraktiken vorführt. „Mit jeder Stunde ohne Versorgung“, erläutert er den Umstehenden, „stieg die Todesrate stark an, für jeden zweiten Verwundeten kamen die Ärzte zu spät.“
Ein Totenkopf – aus Rache geboren
Wenig weiter hockt ein Kämpfer vor einem dampfenden Suppentopf. Ganz in Schwarz ist er gekleidet. Ein weißmetallener Totenkopf ziert seinen Tschako, den Husarenhelm. Der Mann gehört zum „Braunschweigschen Leibbataillon von 1815“, einer Gemeinschaft geschichtsinteressierter Männer. Heute verkörpern sie eine alliierte Elitetruppe, die Anfang des 19. Jahrhunderts aufgestellt worden war. Ein Feldkorps aus Veteranen, das unter General Wellington schon in Spanien und Portugal gegen Napoleon gekämpft hatte. Der Totenkopf auf dem Helm, heißt es im Feldlager, sei damals aus Rache geboren worden, als Ansporn im Kampf gegen den Franzosen, der die Alleinherrschaft über Europa anstrebte.
Mehrmals jährlich sind die Braunschweiger in ihren Uniformen unterwegs. Zu Gast bei historischen Umzügen, Geschichtsfestivals und anderen Veranstaltungen. Am liebsten aber sind sie in Waterloo, wo das Leibbataillon einst auf der Siegesseite stand. Mit Steinschlossmusketen ziehen sie noch heute in die Schlachten. Mit Waffen, die für Erwachsene in Deutschland frei erhältlich sind. Allerdings ist ihr Gebrauch gesetzlich reglementiert, dürfen sie nur mit nachgewiesenen Kenntnissen auf speziellem Gelände bedient werden. Auch in Belgien, wo das historische Schlachtfeld zum Jubiläumsfest für die Öffentlichkeit gesperrt ist. Hüfthoch steht das Getreide – so wie an jenem 18. Juni 1815, als unweit der Straße von Brüssel nach Charleroi 67 000 Deutsche, Briten und Niederländer mehr als 70 000 Franzosen gegenüberstanden. Fußtruppen und Reiter, beide bestens bewaffnet.
Wo einst die alliierten Verteidigungslinien waren, stehen heute die großen Tribünen für die Neugierigen aus aller Welt. Für Tausende von Menschen, die im historischen Kriegsspiel ein Stück Völkerverständigung sehen, die Aufarbeitung einst nationaler Feindschaften, die Europa immer wieder in blutige Kriege stürzten.
Napoleons Armee rückt langsam näher
Aus der Ferne donnern die ersten Salven, rückt Napoleons Armee langsam näher. Gelegentlich schießen die Alliierten zurück. Hin und her wogen die Kämpfe, bei denen sich die Gegner Napoleons erst einmal auf die Verteidigung konzentrieren. Hoch zu Ross galoppieren die Franzosen über das Gelände. Ganz zur Freude der Zuschauer, die mit ihren Kameras die Reiter-Attacken festhalten – als optische Souvenirs für die Daheimgebliebenen. Es sind moderne Schlacht-Trophäen, die mancher per Handy nach Hause schickt.
Immer neue Kanonaden unterstützen die Operationen der französischen Reiter. Große Landgewinne aber machen Napoleons Truppen kaum, auch wenn der kleine Korse seine Truppen persönlich anfeuert. Die meisten ihrer Angriffe scheitern an den Karrees der Engländer. An Infanterie-Gefechtsformen, deren Vorbilder die einst Igel genannten Kampfformationen der Landsknechte waren.
Noch aber ist die Schlacht nicht entschieden, rückt die Grande Armee den britischen Truppen immer näher. Pulverdampf prägt die Szenerie, 2500 Kilo Schwarzpulver werden verfeuert. „Ich wollte, es wäre Nacht oder die Preußen kämen“, soll General Wellington am späten Nachmittag des 18. Juni ausgerufen haben, als sein Heer um die Hälfte zusammengeschrumpft und die Niederlage eigentlich nur noch eine Frage von Stunden war.
Im Waterloo von heute ist es das Zeichen für die Truppen Blüchers, ins Geschehen einzugreifen. Todesmutig stürzen sich jetzt die preußischen Braunschweiger ins Gefecht, zwingen die Franzosen zur Flucht. Nur Napoleons Leibgarde bleibt standhaft. „Die alte Garde stirbt, aber übergibt sich nicht“, wird ihrem General seit 1815 als Zitat zugeschrieben.
Historisch korrekt geht die Schlacht vor den Toren Brüssels auch im Jubiläumsjahr zu Ende – ganz so, wie es ein Zeitungskorrespondent einst in Worte fasste. „Zuletzt löste sie sich an den Punkten, wo sie am heftigsten entbrannte, in ein Handgemenge und ein allgemeines Metzeln auf, indem kein Kommando mehr galt, weil Offiziere und Soldaten gleich fochten und allein Kolben und Bajonette arbeiteten.“ 5000 Uniformierte, 300 Pferde und 100 Kanonen haben schließlich ausgedient.
Müde vom Feiern
Müde schleichen die Akteure vom Kampfplatz. Ausgelaugt von den Schlachten, vom Laden der Gewehre, vom Schleppen der Tornister, vor allem aber vom Feiern in den Nächten zuvor, von langen Biwak-Abenden im Kreis von Freunden. Tote und Verletzte hat es heute nicht gegeben. Anders als 1815, als viele Zehntausend Soldaten in Waterloo für immer ihr Leben ließen.