Am Niederrhein.
Gewöhnlich gibt es Widerstand, wenn der Mensch in die Natur eingreift. Am Niederrhein nicht, obwohl Menschen dort sogar ein ganzes Stück Fluss um 250 Meter nach Süden verlegt haben. Die Lippe bei Wesel. Sie nimmt nun einen kilometerlangen Umweg zu ihrer Mündung in den Rhein – weil sie der B 58 im Weg war. Zündstoff für Ärger mit Naturschützern, denkt man. Doch die sind sehr angetan von der neuen Aue: In nur einem Jahr habe sich dort eine beachtliche Artenvielfalt entwickelt. Für den Naturschutzbund (Nabu) in Nordrhein-Westfalen ist das eine Aufwertung der Landschaft erster Güte.
Südlich der Kreisstadt wurden in fünf Jahren Millionen Kubikmeter Bodenmasse umgewälzt, um das alte Bett der Lippe zuzuschütten und darauf eine Trasse für die neue Straße anzulegen. Der Fluss bekam ein neues Bett. Teilweise wurden alte Baggerseen verfüllt und in die neu gestalteten Auen integriert. Die Kosten für das 19 Mio Euro teure Großprojekt trug das Land.
Die Arbeiten unter der Federführung des Lippeverbandes sind seit rund einem Jahr abgeschlossen. Mit dem Ergebnis ist man beim Verband „sehr zufrieden“: Auf 76 Hektar ist eine naturnahe Auenlandschaft entstanden, die sich harmonisch in die Landschaft des Niederrheins einfügt, anders als früher die kanalisierte Lippe. Wie ein natürlicher Fluss hat die Lippe nun Stromschnellen, zieht schwungvoll ihre Schleifen. Hochwasser ist ausdrücklich erwünscht, in der Aue gibt es genügend Platz.
Lippeverband: Naturbraucht noch Ruhe
Selbst Hardliner unter den Naturschützern wie Peter Malzbender von der Nabu-Kreisgruppe Wesel haben nichts auszusetzen: „Das Gebiet ist ökologisch sehr stark aufgewertet und wird immer brillanter.“ Dieser Naturentwicklungsraum sei einzigartig in NRW. Auch, weil es gelungen sei, Einklang zu schaffen zwischen Natur und Infrastruktur, die ja auch für die Wirtschaft von Bedeutung ist.
Die Natur führt längst Regie. Die Biologische Station des Kreises Wesel betreut das Projekt wissenschaftlich. Die Experten dort haben schon über 200 Pflanzenarten und 130 Vogel- und Fischarten beobachtet. Einige sind auf der Roten Liste als gefährdet eingestuft. Flohkraut wächst, Fledermäuse jagen, Eisvögel brüten. Und in der Mündung schwimmt sogar der Lachs.
Wichtig allerdings: Tier- und Pflanzenwelt braucht Ruhe. „Die Entwicklung steht ja noch am Anfang“, sagt Ilias Abawi vom Lippeverband. Im Kernbereich der Mündung gilt für menschliche Besucher: Betreten verboten. Abawi bittet den Bereich als Naturschutzgebiet zu behandeln, „auch wenn das vielleicht nicht ausdrücklich dransteht“. In fünf oder zehn Jahren werde man es dort noch mit ganz anderen Tier- und Pflanzenarten zu tun haben.
Einen Wunsch hat Peter Malzbender dann doch: Heckrinder, die eine alte Hausrindrasse sind, sollen her oder Wildpferde wie die Koniks, um den Bewuchs auf den Flächen kurz zu halten, damit sich der Wald nicht breitmacht. Das dürfte nicht aussichtslos sein. Vieh ist bereits an mehreren Stellen des Lippeufers grasend im Einsatz, sagt der Lippeverband. Am Fluss selbst wird sich entlang der 220 Kilometer Fließstrecke ab Bad Lippspringe laut Verband noch an vielen Stellen eine Menge tun. Bis 2024 soll die Lippe massiv ökologisch aufgewertet werden.