Attentat auf OB-Kandidatin Reker: Köln hält den Atem an
Ein offenbar fremdenfeindlich motiviertes Messer-Attentat auf die Kölner OB-Kandidatin Henriette Reker erschüttert das Land. Die Oberbürgermeister-Wahl soll jetzt erst recht stattfinden
Köln.
Dass dieser Wahlkampf besondere Spuren hinterlassen würde, war klar. Aber solche? Ein abgeknickter blau-gelber FDP-Sonnenschirm rollt durchs feuchte Herbstlaub. Ein Kübel Rosen in leuchtendem CDU-Orange liegt umgekippt daneben. Ein mehrfach verbogener Fahnenmast mit dem zerfledderten Banner der Grünen hängt schräg zwischen zwei Stehtischen. Bunte Ballons mit Parteilogo wehen im tristen Bodenflug zur Obst-Auslage hinüber. CDU, Grüne und FDP wollten hier auf dem gemütlichen Samstagsmarkt in Köln-Braunsfeld ein letztes Mal als ungleiches Trio für Henriette Reker kämpfen, für ihre gemeinsam unterstützte parteilose Oberbürgermeister-Kandidatin. Um Stimmen. Nicht um ihr Leben.
Attentäter trifft Henriette Reker am Hals
Es ist kurz nach neun Uhr morgens, als für Reker ein kommunalpolitischer Routinetermin plötzlich lebensbedrohlich wird. Die 58-jährige Sozialdezernentin ist früh zum Wahlkampf-Stand gekommen. In Braunsfeld, einem bürgerlichen Quartier mit stattlichen Einfamilien-Häusern im Grüngürtel des FC-Stadions, ist man auch am Wochenende zeitig auf den Beinen. Der Marktplatz ist beliebter Treffpunkt im „Veedel“. Reker wird bereits von einigen Marktgängern umringt, als sich ein Mann mit Rucksack der Gruppe nähert. Augenzeugen berichten, wie er unvermittelt ein langes Bowie-Messer zieht und auf Reker einsticht. Er trifft sie am Hals. Später findet man bei ihm noch ein Klappmesser.
Wahlkampfhelfer versuchen verzweifelt, den Attentäter zu stoppen. Vier von ihnen werden dabei selbst verletzt, zwei schwerer. Ein Bundespolizist, der zufällig in seiner Freizeit auf dem Markt ist, kann den Mann schließlich überwältigen. Die schwer verletzte Henriette Reker hat Glück, dass der erste Rettungswagen schon nach sechseinhalb Minuten bei ihr ist, der Notarzt schon nach neun.
Notoperation der Kölner OB-Kandidatin ist gut verlaufen
Henriette Reker ist war am Samstag abend nach einer Notoperation außer Lebensgefahr: „Die Operation von Frau Reker ist sehr gut verlaufen“, teilte Professor Bernd Böttiger, Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin der Uniklinik Köln, am Samstagabend mit. „Wir haben keinen lebensbedrohlichen Zustand mehr.“
Professor Karl-Bernd Hüttenbrink, Direktor der Klinik für Hals- Nasen- und Ohrenheilkunde der Uniklinik, sagte zur Prognose für die 58-jährige Reker: „Wir halten zum jetzigen Stand und bei normalem Verlauf die vollständige Wiederherstellung der Gesundheit von Frau Reker für wahrscheinlich.“ Die Ärzte wollten sich frühestens am Sonntagnachmittag wieder zum Zustand Rekers äußern, sagte ein Sprecher der Uni-Klinik.
Zunächst berichten Augenzeugen davon, dass der Attentäter wirres Zeug vom „Messias“ und der Weltrettung gerufen habe. Doch einige Stunden später wächst der Anschlag plötzlich zur politischen Tat. Ein „politischer Hintergrund“ könne nicht ausgeschlossen werden, berichtet der Leitende Oberstaatsanwalt Jakob Klaas. Bei dem Attentäter handelt es sich um einen 44-jährigen, schon länger arbeitslosen Maler- und Lackierer, der seit 15 Jahren in Köln lebt. Er wohnt allein im Stadtteil Nippes und wird von Nachbarn als unauffällig beschrieben.
In ersten Vernehmungen äußert er fremdenfeindliche Motive für den Messerangriff auf Reker. Die Sozialdezernentin ist in Köln für die Flüchtlingsunterbringung zuständig. Laut „Spiegel Online“ soll er in den 1990er Jahren bei einer Neonazi-Gruppe FAP aktiv gewesen sein. Die rechtsextreme Gruppe war 1995 vom Bundesinnenministerium verboten worden. Zuletzt sei der Mann mit ausländerfeindlichen Kommentaren im Internet aufgefallen, berichtet „Spiegel Online“ unter Berufung auf Behörden.
Köln „hält den Atem an“
Der Staatsanwalt für politische Straftaten, Ulf Willuhn, erklärt zwar einschränkend, dass man den Tatverdächtigen zunächst eingehend psychiatrisch untersuchen müsse. Der Mann war augenscheinlich nicht in rechtsradikale Netzwerke eingebunden, wohl aber vor 20 Jahren am politisch rechten Rand aktiv. CDU-Bundesvize Armin Laschet zeigt sich bei einer spontanen Gedenkveranstaltung in der Kölner Innenstadt erschüttert und bringt den Angriff auf Reker in Zusammenhang mit den zuletzt bei Pediga-Demonstrationen gezeigten Galgen für Politiker. Verwirrte führten aus, was geistige Brandstifter proklamierten.
„Die Stadt hält den Atem an“, sagt der scheidende Oberbürgermeister Jürgen Roters (SPD). Der Anschlag auf Reker gelte auch der Demokratie. Die Oberbürgermeister-Wahl wird an diesem Sonntag trotzdem stattfinden. So sieht es das Wahlgesetz vor, so wollen es wohl auch die meisten Kölner. „Wir dürfen uns durch ein solches Attentat nicht in die Knie zwingen lassen“, sagt Roters kämpferisch. Am Samstagabend setzten die Spitzen der NRW-Politik ein Zeichen gegen Gewalt. Vor dem Kölner Historischen Rathaus begannen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD), NRW-CDU-Chef Armin Laschet, der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner sowie Grünen-Politiker eine Menschenkette zu bilden. „Wir stehen hier zusammen als Demokraten, um ein Zeichen zu setzen gegen diese verabscheuungswürdige Tat“, sagte Kraft.
Dennoch wird ein Wahlgang mit der Favoritin auf der Intensivstation emotional schwierig. „Der Schock sitzt tief, weil man in dieser bürgernahen, friedlichen Atmosphäre überhaupt nicht mit einem solchen Angriff gerechnet hat“, erklärt Ulrike Graupner von der Notfallseelsorge. Sie hat sich kurz nach der Attacke um Rekers Wahlkampfhelfer gekümmert, die überhaupt nicht fassen konnten, was ich hier an einem normalen wolkenverhangenen Samstagmorgen abgespielt hat. Ein Attentat. Ausgerechnet in Braunsfeld. Gegen eine unbeschützte, freundliche, weithin unbekannte OB-Kandidatin.
Unkorrekte Stimmzettel im Druck für Kölner OB-Wahl
Es ist die dramatische Schlusswendung der wahrscheinlich ungewöhnlichsten kommunalpolitischen Auseinandersetzung in Deutschland seit Langem. Eigentlich hätte Köln seinen Oberbürgmeister-Posten bereits wie viele andere NRW-Kommunen vor fünf Wochen neu besetzen sollen. Doch der Urnengang musste verschoben werden, weil in den zunächst ausgegebenen Briefwahl-Stimmzetteln die Parteienkürzel unzulässig groß und die Kandidatennamen kaum lesbar gedruckt waren. Dies wurde als Benachteiligung der parteilosen Reker gewertet.
Schnell hatten Beobachter den berühmten Kölschen Klüngel im seit Jahrzehnten SPD-dominierten Rathaus im Verdacht. Fast verzweifelt versicherte der OB-Kandidat der Sozialdemokraten, der örtliche Parteichef und Landtagsabgeordnete Jochen Ott (41), dass er sich gewiss nicht mit Schriftgrößen auf dem Stimmzettel Vorteile verschaffen wolle. Im Gegenteil, auf seinen Plakaten verzichtete er bewusst auf das SPD-Logo und präsentierte stattdessen seine Kinder. Eine kleine Spitze gegen die eher kühle Juristin Reker, die kinderlos mit einem Golflehrer verheiratet ist. Am Ende stellte sich heraus, dass zwei Verwaltungsmitarbeiter mit CDU-Parteibuch die unkorrekten Stimmzettel in Druck gegeben hatten.
In Umfragen lag Henriette Reker bis zuletzt vorn
Dennoch gelang es Reker in den vergangenen Monaten, sich als unabhängige und unverbrauchte Alternative für den Neunanfang in der viertgrößten Stadt zu inszenieren. Als personifiziertes Ende der Parteibuch-Wirtschaft am Rhein. Ihr kam zu gute, dass die Grünen sie auf den Kandidatenschild gehoben hatten. Zugleich kam sie der Kölner CDU zupass, da diese peinlicherweise erstmals in der Stadt Konrad Adenauers keinen eigenen Kandidat fand. Und FDP und Freien Wählern gefiel die Vorstellung, eine große Allianz gegen die als allmächtig empfundene SPD zu schmieden.
In Umfragen lag Henriette Reker bis zuletzt klar vorn. Der Wunsch vieler Kölner nach einem Neuanfang scheint so übermächtig, dass niemand so recht wahrnehmen wollte, dass Reker als Sozialdezernenten auch schon seit fünf Jahren im Kölner Verwaltungsvorstand Verantwortung trägt. Gern ausgeblendet wird auch, dass sie als Oberbürgermeisterin keine große Machtfülle entfalten dürfte. Die SPD hat sich im Rat mit Hilfe der Grünen und der Piraten eine einigermaßen stabile Mehrheit gebastelt.
Wichtiger ist vielen ein neues kölsches „Jeföhl“. Unter dem scheidenden Kölner Oberbürgermeister Roters, der nicht mehr antrat, wirkte die boomende Millionenstadt unter Wert regiert. Skandale wie der Einsturz des Stadtarchivs, die nicht fertig werdende U-Bahn oder die Dauerbaustelle Opern-Neubau nagten zuletzt am eigentlich unerschütterlichen kölschen Selbstbewusstsein. Doch was ist das alles gegen einen feigen Anschlag am helllichten Tag auf eine Politikern, die nur Hände schütteln wollte? (we/mit dpa)