An Rhein und Ruhr.
Vor 20 Jahren wurde in Berlin die erste Tafel gegründet. Sie sollte eine Nothilfe sein für Obdachlose, für Menschen, die gar nichts mehr haben. Heute gibt es in Deutschland mehr als 900 Tafeln, die regelmäßige Anlaufstelle für 1,5 Millionen Menschen sind. Für Hartz-IV-Betroffene, Kinder, Rentner, Alleinerziehende, Asylbewerber, Studenten. Zehntausende Ehrenamtliche engagieren sich und verteilen Lebensmittel, die ansonsten auf dem Müll landen würden. An dem System wächst allerdings Kritik. Es entlasse den Staat aus seiner Verantwortung, heißt es, und dies trage zur sozialen Spaltung der Gesellschaft bei, indem es Armut zementiere.
Suppenküchen undKleiderkammern
Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Tafeln hat sich ein „kritisches Aktionsbündnis“ zusammengeschlossen. Das Anliegen dieses Bündnisses: Es sollen die sozialpolitischen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die Tafeln überflüssig werden. Dabei sind unter anderem mehrere lokale Verbände von Caritas und Diakonie, was deshalb erstaunlich ist, weil die beiden kirchlichen Wohlfahrtsverbände Träger zahlreicher Tafeln in Deutschland sind.
Bei der Caritas im Ruhrbistum hat man für die Kritik durchaus Verständnis: „Natürlich muss man dafür kämpfen, dass die Menschen auskömmlich leben können“, sagt Pressesprecher Christoph Grätz. Und ja, der Staat habe sich auch dank der Tafeln ein Stück weit aus der Verantwortung gestohlen; zumal in den vergangenen 20 Jahren noch zahlreiche andere „existenzsichernde Angebote“ für Bedürftige entstanden seien oder eine Renaissance erfahren hätten – Kleiderkammern, Schulmaterialbörsen, Suppenküchen.
An der Spitze der tafelkritischen Bewegung steht seit geraumer Zeit der Soziologe Stefan Selke, Tafel-Forscher und einer der Initiatoren des Aktionsbündnisses. Er betont: Die Kritik richte sich nicht gegen die Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren. Als „Notlösung“ seien Tafeln durchaus richtig und wichtig. Aber die Kritik richte sich „gegen eine Gesellschaft, die Tafeln zulässt, sie nach Marktlogik fördert und institutionalisiert.“
Es sei schlicht skandalös, sagt Selke, dass die Tafeln als Normalität wahrgenommen würden. Damit werde Armut als ein „generelles Strukturproblem“ trivialisiert. Heißt: Es wird gesellschaftlich akzeptiert, dass Menschen eine niedrige Grundsicherung erhalten, weil sie sich ja mit günstigen Lebensmitteln bei den Tafeln eindecken können. Zudem erleichtere die Existenz der Tafeln Ämtern und Jobcentern die Entscheidung, Hartz-Leistungen zu kürzen – mit dem Hinweis darauf, dass die Betroffenen sich an die örtlichen Tafeln wenden könnten.
Als Hauptforderung formuliert das Aktionsbündnis deshalb eine „armutsvermeidende, existenzsichernde und bedarfsgerechte Mindestsicherung“, ohne allerdings genau zu formulieren, wie hoch diese sein soll. Das wiederum stößt bei der Politik auf Skepsis. So hält Nordrhein-Westfalens Sozialminister Guntram Schneider (SPD) schon aus Finanzierungsgründen nichts von einer Erhöhung der Hartz-IV-Sätze, denn „das Geld muss ja auch irgendwie verdient werden“. Die beste Form der Armutsbekämpfung bleibe die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, so Schneider. Er räumt aber ein, dass „es ein Armutszeugnis und eine Schande für den deutschen Sozialstaat ist, dass Millionen Menschen auf freiwillige Gaben angewiesen sind“. Die Tafeln und die ehrenamtlichen Helfer dort leisteten gleichwohl eine „segensreiche Arbeit“. Trotzdem dürften die Tafeln nicht zu einer „zusätzlichen Säule im Sozialsystem“ werden.
Verschwendung vonLebensmitteln verhindern
Bei den Tafeln selbst verwahrt man sich gegen die Kritik. Die Tafeln verfestigten die Armut nicht, sagt Barbara Beckmann, die Vorsitzende des nordrhein-westfälischen Landesverbandes – mit 172 Tafeln der größte bundesweit –, sie hätten es erst möglich gemacht, dass Armut sichtbar wurde. „Ohne die Tafeln hätte niemand über Armut gesprochen“, so Beckmann. Und auch nicht über Lebensmittelverschwendung. „Denn die Tafeln kann es nur geben, weil es Lebensmittel im Überfluss gibt.“