Auf den eigenen Sohlen von der Wohnung zum Arbeitsplatz: Unser Kollege Christopher Onkelbach lernte beim Selbstversuch seine Nachbarschaft neu kennen. Er weiß: Mit der Straßenbahn ist er dreimal schneller. Dafür sieht, riecht und hört er aber auch weniger.
Essen.
Wo geht’s lang? Außerdem regnet es. Und es ist schwül. Das fängt ja gut an! Zu Fuß zur Arbeit, das hatte ich mir vorgenommen. Sonst fahre ich jeden Tag mit der Straßenbahn, mit der Linie 105 dauert es rund zehn Minuten bis zum Hauptbahnhof, dann in die U-Bahn bis Bismarckplatz. 20, 25 Minuten, dann bin ich in der Redaktion. Jetzt brauche ich erstmal den Stadtplan, ich will ja nicht einfach den Gleisen folgen. Es gibt sicher einen kürzeren Weg von Bergerhausen bis zur Redaktion an der Friedrichstraße in der Innenstadt. Also Regenjacke an und los.
An einem normalen Werktag sind 84,7 Prozent aller 573.000 Essener unterwegs. Dabei legen sie 17,3 Millionen Wege zurück, wohlgemerkt: pro Tag! Und nur die Essener! Im Durchschnitt absolviert jeder Bürger und jede Bürgerin täglich 3,5 Strecken. Also zu Arbeit, zum Einkaufen, Kinder zur Schule, zum Sport und zum Flötenunterricht bringen und so fort. Das erklärt, warum Frauen zwischen 30 und 44 die meisten Fahrten machen – Kinder-Taxis. Nur 20 Prozent aller Wege werden zu Fuß bewältigt. Meist sind es Kinder und Jugendliche – vermutlich auf dem Weg zur Schule. Heute mische ich mich unter sie.
Die Straßenbahn kommt, ich lasse sie fahren
9.45 Uhr, Rellinghauser Straße. An der Haltestelle „Weserstraße“ steige ich sonst in die Bahn. Da kommt sie gerade. Ich lasse sie fahren, was ökonomisch Blödsinn ist, weil ich ein Dauerticket besitze. In der Bahn checke ich normalerweise schon mal die wichtigsten Nachrichten, zu Fuß fällt das weg. Dafür sehe ich mehr. Das Künstleratelier, ist mir bislang nie aufgefallen, ein Tattoo-Laden, ist der neu?
Vorbei an „meiner“ Reinigung, die von zwei unfassbar freundlichen iranischen Schwestern geführt wird. Oft halte ich hier ein Schwätzchen über dies und das. Manchmal kann es länger dauern. Einmal erzählten sie mir von ihrer Flucht nach der „islamischen Revolution“, mit dem Kind auf dem Arm. Ich winke durch die Scheibe und mache ein Zeichen, dass ich weiter muss. Sie winken zurück.
Überall Thai-Massage – das hatte ich noch nicht bemerkt
10.00 Uhr, die Sonne kommt durch, ich packe die Regenjacke in die Tasche, mir wird warm. Sonnenstudios, Spielhallen, jede Menge Friseure, Nähstuben, Blumenläden – was es hier alles gibt! Immer dran vorbeigefahren. Schon die dritte Thai-Massage, was ist hier los, habe alle Rellinghausener Rücken? Aus einer Bäckerei durftet es verlockend nach Brötchen und Kaffee. Pause? Ein zweites Frühstück wäre fein. Keine Zeit. Verlockungen am Wegesrand.
80 Prozent aller Wege, die die Essener jeden Tag zurücklegen, bleiben innerhalb der Stadt. Davon werden 32 Prozent im eigenen Stadtviertel zurückgelegt. Das am häufigsten genutzte Verkehrsmittel ist dennoch das Auto. Im Durchschnitt legt ein Essener 8,7 Kilometer pro Tag zurück. Über dreiviertel aller Wege sind kürzer als 10 Kilometer, 54 Prozent sogar kürzer als 5 Kilometer. Das könnte man doch gut zu Fuß schaffen?
Wie die Kneipen heißen!
Richtung Moltkestraße nimmt die Kneipendichte zu. Karawane, Riff, Stadtkrug, Südrock – und wie sie alle heißen. „Hausgeräte Eilservice – alle Fabrikate“, sehe ich über einem Laden – muss ich mir merken. Braucht man irgendwann.
10.10 Uhr. Die zweite Bahn überholt mich. Die lassen sich kutschieren. Ich schwitze.
10.13 Uhr. Moltkestraße. Ich biege links ab in die Witteringstraße. Schon wieder Kaffeeduft! Jetzt eine Pause? Wenigstens ein Becher „to go“. Passt ja. Den Isenbergplatz mit seinen netten Kneipen lasse ich lieber rechts liegen, sonst überlege ich mir das noch mit dem zweiten Frühstück. „Galerie K3“ – ist mir noch nie aufgefallen. „Kunst. Kult. Kiez“ steht da auf dem kleinen Schaufenster. Gewagte Werke, erotische Einblicke, skurrile Farbspiele. Ein paar Häuser weiter Orientteppiche und alte Taschenuhren. Ich habe mal als Bub eine von meinem Opa geschenkt bekommen. Ich habe sie immer noch und meinen Töchtern, als sie klein waren, ans Ohr gehalten. Sie wunderten sich, dass Uhren ticken! Zu Fuß gehen bringt Erinnerungen.
Warum sind Ampeln immer rot?
Wieso sind eigentlich immer alle Ampeln rot? Das kostet echt Zeit. Im Durchschnitt dauert jeder Weg, den ein Essener Einwohner zurücklegt, 23 Minuten. Da jeder mehrmals unterwegs ist, ist man pro Tag rund 80 Minuten auf der Straße. Ein Essener Haushalt verfügt im Schnitt über 1,1 Pkw und 1,4 Fahrräder. 40 Prozent aller Familien besitzen gar kein Fahrrad, dafür haben 77 Prozent der über 18-Jährigen ein Auto zur Verfügung. Dabei sind es bis zur nächsten Haltstelle im Schnitt weniger als fünf Minuten.
10.22 Uhr. Rechts in die Von-Schmoller-Straße. Ich wusste gar nicht, dass hier ein netter Grieche ist, Tische unter Bäumen. Lammrückensteak mit Salat 16,90 Euro. Hmm.
Eine Tanzschule. Erinnerungen werden wach…
10.27 Uhr. Links in die Hohenzollernstraße. Rechts der Stadtpark sieht noch arg sturmzerrupft aus. Die Tanzschule Overrath erinnert mich an den einzigen Kurs, den ich je absolviert habe, aber davon erzähl’ ich nichts.
10.32 Uhr. Ich kreuze die beliebt-belebte Rüttenscheider Straße. Natürlich wieder rot. Im Filmstudio läuft „Wir sind die Neuen“, Jungspießer gegen Althippies. Alles kommt wieder.
Die meisten fahren mit dem Auto
In Deutschland werden täglich 162 Millionen Wege zurückgelegt, insgesamt 2,5 Milliarden Kilometer. Hauptsächlich mit dem Auto. Da sitzen im Schnitt nicht einmal 1,5 Personen drin. Freitags fahren die Deutschen noch mehr, dann sind es 3,8 Milliarden Kilometer. Etwa 160 Millionen Tonnen Kohlendioxid werden dabei im Jahr in die Luft geblasen. Ich atme das CO2 heute nur aus.
10.35 Uhr. Vorbei am Mercur-Hotel. Zwei Angestellte rauchen vor der Tür und grüßen freundlich. Brombeeren greifen durch einen Bauzaun. Der Rest des Weges ist trist, entlang der Friedrichstraße sieht man kaum Passanten, nur Autos, Autos, Autos. Warum gehen die nicht mal zu Fuß?
10.43 Uhr. In der Redaktion. Gerade noch rechtzeitig für die erste Konferenz. Leicht verschwitzt und durstig. Zu Fuß – das dauert zwar länger – aber man erlebt Sachen…