Veröffentlicht inPolitik

„Warum Latein doch besser ist“

„Warum Latein doch besser ist“

Lateinunterricht innovativ Städtisches Gymnasium Gevelsberg--656x240.jpg
Foto: Ina Blumenthal
Schüler sollten lieber Spanisch als Latein lernen – Auf diese Forderung von Arbeitnehmern und zahleichen Gewerkschaftern reagiert Helmut Meißner vom Deutscher Altphilologenverband Baden-Württemberg mit einem leidenschaftlichen Appell für die alten Sprachen.

Essen. 

„Latein ist aktuell – aber erst auf den zweiten Blick“, sagt Helmut Meißner vom Altphilologenverband Baden-Württemberg. Hier sein Plädoyer für das traditionsreiche Schulfach Latein.

Die Ansichten über Latein sind geteilt: „Latein muss sein“ sagt der eine; „Latinum auf den Sperrmüll“ ein anderer. „Latein ist eine Qual!“, stöhnt es hier; „Latein hat mir geholfen!“, ruft es dort. Was stimmt denn nun?

Die Antwort ist gar nicht so einfach. Jedenfalls benötigt man bei Latein mehr Zeit als bei einer modernen Sprache, um zu einer brauchbaren Meinung zu gelangen. Bei Englisch, Französisch oder Spanisch springen die Vorteile sozusagen in die Augen: ‚Lerne Englisch, weil viele Menschen Englisch sprechen und weil du wahrscheinlich in Lebenssituationen kommst, in denen es nützlich ist, diese Sprache zu können!’ – Ähnliche Gründe wie für Englisch lassen sich auch für Spanisch, Französisch, Chinesisch, Arabisch und andere moderne Fremdsprachen anführen.

Ganz anders ist es bei Latein: Was einem bei Latein oft zuerst „in die Augen springt“, ist, dass heute niemand mehr Latein spricht, zumindest nicht von klein auf! „Tote“ Sprache – bäh! Wer seine Zeit dafür hergibt, Latein zu lernen, der kann nicht normal sein! Fertig! – Oder?

Drei Dinge, die man dem Fach Latein nicht auf den ersten Blick ansieht

Aber schaut man genauer hin und bringt ein wenig Geduld mit, so merkt man: Latein hat es in sich. Am interessantesten sind vielleicht drei Dinge, die dabei zum Vorschein kommen:

-Man sieht mit einem Male, dass der sogenannte Tod der lateinischen Sprache einen Riesenvorteil für Wissenserwerb und gegenseitige Verständigung in den Jahrhunderten seit der Spätantike brachte.

-Dann wird einem bewusst, dass Latein jungen Menschen, wenn sie sich auf dieses Fach einlassen, nicht nur die Kenntnis dieser Sprache, sondern auch, in mehrfachem Sinne, Bildung vermitteln kann.

-Und schließlich stellt man staunend fest, dass auch unsere Gesellschaft insgesamt Nutzen aus Latein ziehen kann, unter anderem deshalb, weil für einige römische Autoren die Orientierung am Gemeinwohl so bestimmend ist, dass heutige Leser fast nicht umhin können, auch selbst immer wieder vom Gesamtinteresse her zu denken.

Der sogenannte Tod des Lateins – mit verblüffender Wirkung

Die verblüffende Behauptung, dass der sogenannte Tod der lateinischen Sprache sich seit 2000 Jahren als förderlich für den Wissenserwerb und die gegenseitige Verständigung erweist, ist eigentlich gar nicht originell. Man muss nur bedenken, was vor etwa zwei Jahrtausenden mit der lateinischen Sprache geschah: Nachdem Latein sich zuvor, wie jede Sprache, ganz normal immer weiter verändert hatte, begann dieser Veränderungsprozess auf einmal zu stocken; dieses Stocken betraf natürlich nicht alle Teile der Sprachentwicklung, aber doch einen wichtigen Teil: die Literatur und überhaupt die anspruchsvolle schriftliche Kommunikation.

Was war der Grund? Nicht, wie man vermuten könnte, irgendein Schwächeanfall, sondern, im Gegenteil, die Bewunderung für die sprachliche Meisterschaft Ciceros, Vergils und anderer berühmter Autoren, die kurz zuvor ihre Werke veröffentlicht hatten. Von nun an bemühten sich lateinische Schriftsteller zumeist, ihre Werke in der Sprache Ciceros und Vergils zu verfassen. Und erstaunlicherweise blieb es dabei, von Schwankungen abgesehen, all die Jahrhunderte über bis in die Neuzeit.

So brachte Latein etwas fertig, was eine Sprache sonst kaum jemals leisten kann: die „Überschreitung der Zeitgrenzen“ (Wilfried Stroh): Während Texte „normaler“, sich verändernder Sprachen nach wenigen Jahrhunderten nur noch schwer verstanden werden – außer von Spezialisten –, konnte man die Texte Ciceros und Vergils, weil Latein im Wesentlichen gleich blieb, auch nach vielen Jahrhunderten noch ohne Weiteres im Original lesen. Begeisterte Leser Ciceros waren zum Beispiel Augustinus (um 400), Luther (um 1520), Voltaire und Friedrich der Große (um 1750) – bis zu bekannten Zeitgenossen, wie Roman Herzog und Richard von Weizsäcker!

Und umgekehrt kann heute, wer Latein gelernt hat, mit dieser einen Sprache lesen, was in den letzten 2000 Jahren Persönlichkeiten ganz unterschiedlicher Länder geschrieben haben: der schwedische Naturforscher Linné (um 1750), der tschechische Pädagoge Comenius (um 1650), der französische Philosoph Descartes (um 1640), der deutsche Bildungsreformer Melanchthon (um 1530), der niederländische Humanist Erasmus (um 1520), der englische Staatsmann Morus (um 1520), der italienische Dichter Petrarca (1350), die deutsche Dichterin Roswitha von Gandersheim (um 960), der fränkische Biograph Karls des Großen, Einhard (um 800), der osteuropäische Bibelübersetzer Hieronymus (um 400) – und selbstverständlich die Römer selbst, wie Caesar, Augustus, Ovid, Seneca oder Tacitus, deren Muttersprache Latein war!

Latein als Mehrzweck-Bildungsfach

Worin aber besteht der eigentliche Bildungswert des Faches Latein? Was können junge Menschen von Latein für ihr eigenes Leben gewinnen? Da Latein ein sehr vielschichtiges Fach ist – manche sagen martialisch „Mehrzweckwaffe“ –, gibt es hier mehrere, ganz unterschiedliche Vorteile.

Leichterer Zugang zu den romanischen Sprachen und zu Englisch

Zunächst ein praktischer, unmittelbar einleuchtender Vorteil: Lateinkenntnisse erleichtern das Lernen der romanischen Sprachen, darunter Französisch, Italienisch und Spanisch. Das erklärt sich vor allem daraus, dass die romanischen Sprachen aus dem Lateinischen entstanden sind und deshalb zum Teil immer noch große Ähnlichkeiten zum Lateinischen aufweisen. Ein Beispiel: ‚singen’ heißt auf Lateinisch ‚cantare’, auf Italienisch ebenfalls ‚cantare’, auf Spanisch ‚cantar’, auf Französisch ‚chanter’.

Auch Englisch lernt man mit Lateinkenntnissen leichter. Zwar ist Englisch eine germanische Sprache. Aber der Anteil lateinischer Wörter im gehobenen Englisch liegt bei über 60 %. Beispiele: education, opinion, virtue.

Fähigkeit, weitere Fremdsprachen selbständig zu lernen

Künftig wird die Fähigkeit immer wichtiger werden, selbständig und rasch weitere Fremdsprachen zu lernen. Dass Latein zu dieser Fähigkeit auch dann beitragen kann, wenn die weitere Sprache nicht mit Latein verwandt ist, leuchtet nicht sofort ein. Trotzdem gibt es diese Erfahrung; sie erklärt sich so:

Wer Latein lernt, muss sich in ein verhältnismäßig reich gegliedertes grammatisches System einarbeiten. Darüber stöhnen manche und ärgern sich. Aber viele haben auch Freude daran, zu durchschauen, wie die lateinische Sprache funktioniert, und trainieren dabei ihren analytischen Blick für das Funktionieren von Sprache überhaupt. Das allein hilft schon beim Lernen weiterer Fremdsprachen.

Aber den richtigen „Biss fürs Sprachenlernen“ bekommt man erst, wenn man beides geübt hat: den mehr „reflektierenden“ Umgang mit Latein und den mehr „imitierenden“ Umgang mit modernen Fremdsprachen. Die durchaus unterschiedlichen Fähigkeiten, die dabei trainiert werden, ergänzen einander vorzüglich. Wer beide besitzt, bringt beste Voraussetzungen für das oft geforderte Vermögen mit, als Erwachsener beliebige weitere Fremdsprachen selbständig und rasch zu lernen.

Mehr Sicherheit in der deutschen Sprache

Oft wird darüber geklagt, dass selbst Gymnasiasten Schwächen in der deutschen Sprache haben. Latein kann, so überraschend das klingt, auch zur Sicherheit im Deutschen beitragen. Dies vor allem aus drei Gründen:

-Die erwähnte grammatische Schulung ist auch für das Verständnis der deutschen Grammatik nützlich.

-Da in Latein von Anfang an das genaue Übersetzen ins Deutsche verlangt wird, besteht für die Schüler ein dauernder Anreiz, nach passenden deutschen Formulierungen zu suchen. So können sie ihr Ausdrucksvermögen in der deutschen Sprache trainieren.

-Latein erleichtert es, Fremdwörter zu verstehen, z.B. Evolution, Rekonvaleszenz, transportieren, kreativ.

Inzwischen wird Latein in Deutschland auch von vielen Schülern gelernt, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Dass Latein gerade solchen Schülern mehr Sicherheit im Gebrauch der deutschen Sprache geben kann, ist seit einigen Jahren wissenschaftlich belegt.

Training geistiger Fähigkeiten

Im Lateinunterricht sind viele Nüsse zu knacken. Das stört manche sehr; deshalb wäre es kein guter Einfall, mit Latein nun alle beglücken zu wollen. Aber ist es darum angebracht, vor Latein alle bewahren zu wollen? Das hielte ich für ebenso falsch, gerade im Interesse der Kinder, nicht zuletzt im Interesse der 10- bis 12-Jährigen.

Im Alter zwischen 10 und 12 Jahren durchleben Kinder in mehrfacher Hinsicht die besten Lernjahre. Die geistigen Fähigkeiten, die in diesem Alter erwachen, bedürfen des Trainings, um sich bestmöglich zu entwickeln. Die Eigentümlichkeiten des Lateins (differenzierte Grammatik, ungewohnte Wortstellung u.a.) nötigen dazu, genau hinzuschauen, gründlich zu lernen und beim Übersetzen immer wieder den bildungswichtigen Prozess des Fixierens, Prüfens und Korrigierens der eigenen Vor-Annahmen (Hypothesen) zu durchlaufen. Dass Latein in dieser Entwicklungsphase des Kindes ein besonders wirksames „Trainingsprogramm“ der geistigen Fähigkeiten sein kann, ist statistisch belegt. Dies gilt gerade auch für mittlere Begabungen.

Die Begegnung mit Werken römischer Autoren versetzt die Schüler in eine Kultur, die unserer heutigen zwar geistig verwandt, aber durch den zeitlichen Abstand auch fremd ist. Diese eigentümliche Spannung zwischen Fremdheit und geistiger Verwandtschaft bietet vor allem Schülern der Mittel- und Oberstufe vielfältigen Anreiz, Standpunkte und Einsichten beider Kulturen zu vergleichen, über die eigene Welt nachzudenken und geistige Selbständigkeit zu entwickeln.

Was hat die Gesellschaft insgesamt davon?

Bildung sollte meiner Meinung nach nicht nur den einzelnen Menschen helfen, ihr Leben in Freiheit und Verantwortung zu führen. Bildung sollte auch an der Funktionsfähigkeit des größeren Ganzen orientiert sein, also dazu beitragen, dass Staat, Gesellschaft und Familie ihre Aufgaben gegenüber den einzelnen Menschen erfüllen können. Zweifellos ist dies ein äußerst schwieriges Thema. Man denke nur an die weltweiten Tendenzen zu Verrohung, Gewalt und menschlicher Rücksichtslosigkeit und an die zunehmende Gefährdung von Freiheit und Demokratie in Europa.

Ich beschränke mich hier auf den Aspekt ‚staatsbürgerliche Erziehung’. Eine Demokratie ohne Demokraten kann bekanntlich nicht funktionieren. Deshalb sollte Bildung auch darauf ausgerichtet sein, dass es in allen Bereichen der Gesellschaft – nicht zuletzt in der politischen Klasse – verantwortungsbewusste Bürger gibt, die daran gewöhnt sind, möglichst umsichtig vom Gesamtinteresse her zu denken.

Was die römische Literatur angeht, so ist ehrlicherweise einzuräumen, dass dort, wie in anderen Literaturen auch, recht oft Ichbezogenheit und mangelnder Gemeinsinn eine große Rolle spielen. Andererseits scheint es mir bemerkenswert, wie konsequent die meisten „Schulautoren“ ihre politischen Gedankengänge am Gemeinwohl ausrichten. Wer diesen Gedankengängen über längere Zeit folgt und sie zu interpretieren versucht, gewinnt dabei, im günstigen Fall, eine gewisse Übung darin, die eigenen Gedanken am Gemeinwohl zu orientieren.

Zur Veranschaulichung möchte ich nur zwei Stellen dieser Art in aller Kürze zitieren:

Cicero schreibt über die Pflichten eines Spitzenpolitikers (De officiis, I, 85):

„Deshalb sollen diejenigen, die an der Spitze eines Staates stehen, zwei Grundsätze Platons beachten: zum einen, dass sie den Nutzen der Bürger so schützen, dass sie ihn bei allem, was sie tun, im Auge behalten, ohne Rücksicht auf eigene Interessen …“

Voll Schmerz über die katastrophale Situation, in die der römische Staat geraten war, behandelt der Historiker Sallust eingehend die Frage, wie „aus dem schönsten und besten Staat der schlechteste und schändlichste“ wurde. Dabei äußert er die Vermutung, es habe damit begonnen, dass öffentliche Anerkennung nicht mehr aufgrund von anständigem Handeln, sondern aufgrund von Reichtum zuerkannt wurde (Verschwörung des Catilina, XII, 1):

„Seitdem es jedoch dahin gekommen war, dass Reichtum öffentliches Ansehen brachte und ihm Ruhm, Macht und Einfluss folgten, begann die Tüchtigkeit zu schwinden …“

Wenn ein Lehrer mit Schülern über solche Textstellen spricht, entwickeln sich oft sehr nachdenkliche, fruchtbare Diskussionen, die geeignet sind, das politische Urteilsvermögen der Schüler zu schärfen.

Freilich gibt es niemals eine Garantie für solche Bildungserfolge. Sie sind abhängig von den beteiligten Personen und von diversen Rahmenbedingungen. Das aber wäre ein eigenes Thema.