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Warum die Zweitstimme diesmal noch wichtiger ist

Warum die Zweitstimme diesmal noch wichtiger ist

Berlin. 

Ungewöhnlich deutlich hat Kanzlerin Angela Merkel auf die Zweitstimmenkampagne der FDP reagiert. „Wir haben keine Stimme zu verschenken“, schreibt Merkel in einem Brief an Millionen Wähler-Haushalte, „geben Sie beide Stimmen der CDU“. Die harte Absage an den Koalitionspartner hat ihren guten Grund: Das neue Bundestags-Wahlrecht entzieht dem früheren taktischen Stimmensplitting, dem Spiel mit der klugen Verteilung von Erst- und Zweitstimme, die Grundlage. Überhangmandate, die damit möglicherweise den Volksparteien zugute kommen, werden künftig für die anderen Parteien ausgeglichen.

Aufgeblähter Bundestag

Zwar wirbt die FDP dennoch damit, ein „geschicktes Stimmensplitting“ sichere Schwarz-Gelb. Aber wenn prominente FDP-Politiker wie Guido Westerwelle in Bonn oder Daniel Bahr im Münsterland ihren Wählern vor Ort empfehlen, mit ihrer Erststimme den CDU-Kandidaten zu wählen und mit der zweiten FDP – dann haben zwar die Liberalen ganz sicher und der lokale CDU-Bewerber vielleicht noch etwas davon. Aber die CDU im Parlament muss fürchten, bei diesem Handel geschwächt zu werden. Und der Bundestag würde zugleich aufgebläht.

Wie kann das passieren? Eigentlich ist die Zweitstimme die wichtigere Stimme, sie entscheidet über die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag – auch wenn die Alltagssprache, die Zweitautos und Zweitwohnungen kennt, das Gegenteil nahelegt. Mit der Erststimme wird in den 299 Wahlkreisen jeweils ein Abgeordneter direkt gewählt, natürlich gewinnt fast immer ein Kandidat von Union oder SPD. Doch bisher lief es oft so: Bekam eine Partei in einem Bundesland über die Erststimme mehr Direktmandate, als ihr nach den Zweitstimmen zustanden, wurden ihr dafür Überhangmandate zugeschlagen. Die zusätzlichen Sitze verzerrten die Mehrheitsverhältnisse im Parlament zugunsten großer Parteien. Gut informierte Wähler haben das zum taktischen Splitting in ihrem politischen Lager genutzt.

Beispiel: FDP-Wähler, die wussten, dass der FDP-Direktkandidat ohnehin keine Chance hat, wählten nur mit der Zweitstimme „ihre“ Liberalen, mit der Erststimme aber den Unionskandidaten. 2009 machten das mehr als die Hälfte der FDP-Wähler so – bei den Grünen-Wählern stimmte dagegen nur ein Drittel für den Wahlkreiskandidaten der SPD. Die Folge der Disziplin im schwarz-gelben Lager: Bei der Wahl 2009 gab es 24 Überhangmandate, so viele wie noch nie, alle gingen an die Union; eine knappe Mehrheit hätte die schwarz-gelbe Koalition aber auch ohne die Extra-Mandate gehabt. Bei früheren Wahlen hat auch die SPD von Überhangmandaten profitiert

Mit dem mehrheitsverzerrenden Effekt ist nun aber Schluss. Das Bundesverfassungsgericht hat 2012 diese Praxis für verfassungswidrig erklärt und die Wiederherstellung des Zweitstimmen-Proporzes verlangt. In einer Wahlrechtsreform haben sich die Bundestagsfraktionen – ohne Zustimmung der Linken – für die einfachste und komfortabelste Lösung entschieden: Künftig werden alle Überhangmandate einer Partei für die anderen Parteien kompensiert. Auch sie erhalten Extra-Sitze, bis das Verhältnis der Zweitstimmen wieder hergestellt ist.

200 neue Plätze werden vorbereitet

Eine Folge: „Die Wähler werden nicht mehr zum Splitting ermutigt“, sagt der Augsburger Wahlmathematiker Friedrich Pukelsheim. Der Berliner Staatsrechtler Hans Meyer sagt: „Heute hat das Splitting seinen Sinn verloren, es kann nur zu einer Vergrößerung des Parlaments führen.“ Doch nicht nur Meyer ahnt, dass die Wähler aus Gewohnheit auch weiter von der Splitting-Möglichkeit Gebrauch machen – die ja bei der Auswahl des Wahlkreiskandidaten auch Sinn machen kann – und damit, ungewollt, das Aufblähen des Parlaments befördern. Hätte das neue Wahlrecht schon 2009 gegolten, wären 671 Abgeordnete in den Bundestag gewählt worden statt tatsächlich 622. Wenn die Wahl für Union und SPD etwa so ausgeht, wie es aktuelle Umfragen nahelegen, dürfte das Parlament nach Expertenprognosen immerhin knapp 640 Abgeordnete bekommen. Im Extremfall könnten es sogar 700 bis 800 Mandatsträger werden. Die Bundestagsverwaltung sucht vorsorglich schon nach Möglichkeiten, die zusätzlichen Abgeordneten unterzubringen, 200 Büroplätze werden vorbereitet.