Abergläubische Eltern töten in Nigeria ihre Söhne und Töchter, weil selbsternannte Prediger ihnen einreden, der Nachwuchs sei vom Teufel besessen. Rettung für die Kinder gibt es nur an einem Ort. Wolfgang Bauer hat ihn besucht. Für seine in der „Nido“ veröffentlichte Reportage erhielt er den Medienpreis der Kindernothilfe.
Akwa Ibom.
Das Böse sucht die Nähe des Guten, bedrängt es, schmeichelt sich ein mit Wimmern und Lügen. Unablässig greift es nach der Hand von Uwe Okwong Uwe, 40, dem Taxifahrer des Dorfes. Es berührt ihn mit den Fingerspitzen, die klein sind und zart. „Was soll ich tun?“, flüstert der Mann, als er im Türrahmen seines Hauses steht. Das Böse sieht zu ihm auf, aus sanften Augen, hinter denen alles lauert, wofür Menschen die Verdammnis fürchten. „Ich weiß keinen Rat“, klagt er, der seine ganze Existenz in den vergangenen sechs Monaten verloren hat. Die Frau, den Job, zuletzt seinen kränkelnden jüngsten Sohn. Den begrub er vor einer Woche im Garten zwischen zwei Bananenstauden. Das Haus der Familie, vor dem Okwong steht, ist verlassen. Er schaut teilnahmslos an seinem Arm herab, wo das Unheil an ihm hängt wie ein Geschwür. „Ich habe wirklich alles versucht. Aber es ist der Dämon“, sagt Okwong und meint das sechsjährige Kind, das es jetzt endlich schafft, die Hand des Mannes mit der seinen zu umschließen. Sein ältester Sohn. Bald wird dem Taxifahrer Okwong nichts anderes mehr übrig bleiben als ihn aus dem Dorf zu führen, hinein in den Wald, wo es mehr Schatten gibt als Licht, und ihn dort umzubringen.
Es ist ein Sonntag am Ende der Regenzeit, der Singsang von Gottesdiensten liegt über dem Land wie der Klangteppich des Vogelzwitscherns. Die Kirchen in den Dörfern und Städten des nigerianischen Bundesstaates Akwa Ibom sind gefüllt mit Gläubigen, die dem Herrn ihre Hände entgegenwerfen, ihre Köpfe ekstatisch verdrehen und unter Tränen ihren Gott anflehen. Uwe Okwong Uwe, der Vater des Kindes, ist nach dem Gottesdienst mit dem Mofa vors Haus gefahren, ein ernster, besonnener Mann. Er lässt sich selten hinreißen, wägt in Diskussionen sorgfältig ab, ist heute auch nicht von Palmwein betrunken wie die meisten anderen im Dorf. Das Kind will er füttern, denn niemand sonst wagt es, sich dem Sechsjährigen zu nähern. Die Nachbarn meiden das Haus, seit alle wissen, dass ein Fluch darauf liegt. Fast nackt, nur in kurzen schwarzen Hosen, hockt das Kind auf der Veranda, es heißt Uwe wie der Vater, ein Junge mit ängstlichen Augen, so groß fast wie der Kopf. „Ich erkenne in ihm mein Kind nicht wieder. Er hat sich so verändert.“
Der Kleine kam im Dezember 2009 vom Nachbarsjungen gerannt, einem Achtjährigen, der ihn aus Boshaftigkeit verhext habe, mit heimlich verzaubertem Reisbrei. Das erzählte der Sohn dem Vater. Das Gerücht machte im Dorf schnell die Runde, es ließ sich nicht mehr stoppen, und die Welt der Familie Okwong fiel in sich zusammen. Der Wahnsinn verbreitet sich wie eine Epidemie, er ist von Mensch zu Mensch übertragbar, eine Pestilenz, die vor etwa zehn Jahren im Südosten Nigerias ausbrach. Nie zuvor hat es sie in Akwa Ibom gegeben. Sie begann in einzelnen Dörfern, hier und da, streute rasch und frisst sich seither in ganze Regionen Nigerias. Eltern führen Krieg gegen ihre Kinder. Sie töten sie zu Tausenden. Die Liebe zu ihnen verkehrt sich in Hass. Kinderkadaver treiben in den Strömen des Nigerdeltas oder verrotten im Busch. Es gibt Stellen in den Wäldern, da trifft man auf regelrechte Schädelstätten. „Hütet euch vor den Hexenkindern!“, brandpredigen evangelische Pastoren. Jeden Tag infizieren die Priester die Menschen neu.
Dieses Drama ist auf keiner UN-Dringlichkeitssitzung vertreten. Kein Menschenrechtsgerichtshof ergreift Partei. Die Regierenden scheinen unberührt, und die Weltöffentlichkeit nimmt kaum Notiz. Einzig eine lokale Hilfsorganisation stemmt sich gegen das Morden, CRARN, das „Child Right and Rehabilitation Network“ – was ein großer Name ist für nicht mehr als eine Handvoll Aktivisten. Zwei von ihnen sind heute zufällig durch das Dorf von Familie Okwong gefahren. Das rettet das Leben des sechsjährigen Uwe.
Ein Dorf voller Dämonen
[kein Linktext vorhanden]Den Weg zum Haus hatten ihnen der Bürgermeister gewiesen, der Chief, auch betrunken an diesem Sonntag, der mit schwerer Zunge vom Dämon im Dorf erzählte. „Helft ihm“, bitter er sie, und meint damit nicht den Sohn, sondern den Vater. Jehu Ebuk Tom nickt mit hängendem Kopf, eine Routineaktion, der 28-Jährige ist der „Rescue Officer“ der Kinderschutzorganisation. Er zählt zu den vier jungen Männern, die CRARN vor sieben Jahren gründeten. Einer mit leiser, eindringlicher Stimme, der sich immer kleiner macht als seine Gesprächspartner, schwarze Kunstlederjacke, darin ein Notizblock, auf dem er sich das Grauen in Stichworten notiert.
Es gibt so viele Dämonen im Dorf der Familie Okwong, auf der kurzen Fahrt durch den Ort zeigt ihm der Chief die Besessenen. „Der“, deutet er mit dem Finger auf einen kleinen Jungen, der unter einem Baum kauert. „Die“, sagt er, als er am Straßenrand ein vierjähriges Mädchen entdeckt, das alleine mit einem Ball spielt. Der schlimmste aller Teufel jedoch lebe bei den Okwongs. Der Vater sitzt auf der Terrasse, sein Junge weint, weil er die Ankömmlinge sieht; er versucht sich loszureißen und davonzurennen, dann schließt sich eine Menschenmenge um beide.
„Wir haben Angst vor dir!“, brüllen die Dorfbewohner ein Kind an
Er hatte es eigentlich nicht vor, doch muss er das Kind mitnehmen, davon ist Jehu schnell überzeugt. Immer alarmierter schaut er im Laufe des Gesprächs. Okwong ringt mit den Händen. Die Dorfbewohner hinter ihnen höhnen, tuscheln, zischen. Sie schneiden Grimassen. „Wir haben Angst vor dir!“, brüllen sie zum Kind, das sich weiter heulend aus der Hand des Vaters befreien will. „Ich hab ihn zu fünf Pastoren gebracht“, sagt der. „Alle haben bestätigt, dass er befallen ist.“ Er habe alles für die Errettung seines Sohnes getan, zwei Felder verkauft, um die Teufelsaustreibungen zu bezahlen, seinen Wagen noch dazu. Es half nichts. „Der Junge ist nicht mehr der alte. Er gehorcht nicht mehr, er lehnt sich auf.“ Okwong hat keine Wahl. Versuchte er den Jungen zu verteidigen, brächte er sich selbst in Gefahr, vom Dorf als Hexer denunziert zu werden. Die Lehrerkonferenz seiner Schule schloss Uwe vor einigen Monaten vom Unterricht aus. Damit sein böser Geist die anderen Kinder nicht befalle. Die Geschäfte von Uwes Vater gingen rapide schlechter. Die Stiefmutter verließ das Haus, ihr neun Monate alter Sohn wurde krank und starb. „Er darf in unser Kinderheim“, sagt Jehu schließlich. Das einzige Asyl für Hexenkinder im Land.
Palmöl gegen böse Geister
Ein letztes Mal wäscht der Vater den Sohn. Er reibt ihn mit Palmöl ab, das die bösen Geister vertreiben soll. Kleidet ihn ein, wortlos, im Dunkel der Hütte. Er zieht ihm den Sonntagsstaat an, den er in den Kirchen während der Teufelsaustreibungen trägt, weißes Hemd, schwarze Weste. Er meidet den Blick des Kleinen, der nun alles stumm mit sich geschehen lässt, schließt seine Weste, Knopf für Knopf. Streicht ihm den Hemdkragen glatt, klappt ihn über die Weste, zieht noch einmal alles straff, zögert einen Moment, hält sich die Stirn, um ihn dann an der Hand hinauszuführen in die gaffende Menge, zu Jehus wartendem Minibus. „Du musst ihn eines Tages holen kommen“, sagt der Sozialarbeiter, der seine Telefonnummer hinterlässt, bevor er die Wagentür schließt. „Es ist doch dein Sohn.“
Die Nase an der Scheibe, gleitet Uwe im Auto in sein neues Leben, über holprige Sandpisten. Kinder laufen fröhlich kreischend hinter dem Minibus her. Ernst schaut der Junge hinaus, der Wagen fährt von seinem Dorf ins nächste, von den Seitenstraßen auf die Fernstraße, 65 Kilometer weit, draußen flirren die Fronten der Kirchenhallen vorbei. Sie heißen „Winners’ Chapel“ und „The King of Kings“ und „Kirche der Erlösten“. Ihre riesigen Werbetafeln säumen die Wege, aufgereiht wie vor den Casinos in Las Vegas, sie buhlen um Gläubige. Aber wie in Las Vegas gibt es in diesen Kirchen nichts umsonst.
Nigeria erlebt in diesen Jahren eine aufbrandende Welle der Religiosität. Der Vielvölkerstaat ist erschüttert von ethnischen Konflikten und Verteilungskämpfen, besonders im Süden, wo das Öl gefördert wird. Shell produziert hier und Exxon Mobil. Nigeria ist einer der größten Öllieferanten weltweit. Das Industriezeitalter prallt mit brachialer Wucht auf das Land der Bauern und Kleinhändler. Hightech- Raffinerien wachsen neben Strohhütten. Es werden wenige reich durch das Öl, viele bleiben arm. In den Südstaaten kämpfen bewaffnete Milizen für einen größeren Anteil am Wohlstand, sie töten und entführen. Dörfler zapfen die Pipelines an, um Öl zu schmuggeln, die Erde färbt sich vielerorts grau in Akwa Ibom, das Wasser schwarz.
Pastoren sind die Parasiten der Krise, Blutsaugern gleich haften sie zu Dutzenden an den Dörfern. Sie nähren sich vom Wenigen, das die Menschen besitzen. Diese Priester haben niemals studiert, sie haben den Segen keiner regulären Kirche. Ihre Titel verleihen sie sich selber, ihre Glaubensgemeinschaften haben sie sich selbst erschaffen. Das sind ihre Einnahmequellen. Die Konkurrenz ist groß unter den Pastoren, immer eindrucksvoller müssen sie ihrer Gemeinde beweisen, dass sie Gott am nächsten stehen. Je mehr Dämonen sie identifizieren, je mehr sie austreiben, desto mehr Hoffende kommen zu ihnen. Bei all dem verdienen sie Geld, und sie haben gelernt: Am meisten Geld verdienen sie mit der Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Diese Liebe ist den Kindern zum Fluch geworden.
Die Nachbarn drohten, das Heim niederzubrennen
Die Wagentür springt auf, als der Sozialarbeiter Jehu und sein Schützling bei Dämmerung das Kinderheim erreichen. Uwe hangelt sich heraus und tritt stumm auf den Hof, auf dem einige Jungs gerade Fußball spielen. „Willkommen, kleiner Mann“, empfängt ihn Sam Ikpe-Itauma, Präsident der CRARN, ein jovialer 35-Jähriger, der eigentlich Lehrer werden wollte, Englisch und Literatur studierte. Das Zentrum des Hilfsvereins besteht aus zwei Wohngebäuden, das linke für die Jungen, das rechte für die Mädchen, sechs Klassenzimmern und einem Ring von Obst- und Gemüsegärten, aus denen sie sich versorgen. Es ist ein Ort, wie es ihn zum Glück auf der Welt kein zweites Mal gibt. Zuflucht von derzeit 225 Kindern, die in ihren Familien und Heimatdörfern als Hexen und Hexer gelten, das reale Hogwarts, bitterer, als es je ein Romanautor hätte erfinden können. Als Sam Ikpe-Itauma 2003 die ersten Kinder hier unterbrachte, drohten die Nachbarn damit, das Heim niederzubrennen.
Priester geben Anleitungen zum Kindertöten
Fest glauben die Kinder bei ihrer Ankunft, dass sie das sind, was ihnen von allen nachgerufen wird. Dabei verstehen sie meist nicht, was genau das sein soll: Hexen. „Kannst du in der Nacht fliegen? Dann flieg!“, provoziert Sam Ikpe-Itauma die Neuen. „Kannst du dich in eine Eidechse oder eine Kakerlake verwandeln? Nein? Wie kannst du dann eine Hexe sein?“ Bei einigen Kindern behilft er sich mit einem Trick. Er gibt ihnen ein Stück Brot zum Kauen und sagt, sie sollten alles Böse in diesen Krumen legen. Er lässt sich dann das Brot auf seine Hand spucken und würgt es hinab. „Es ist vorbei“, erklärt er den Kindern entschieden. Manchmal wirkt sie, diese Reinigungsprozedur.
Der sechsjährige Uwe bekommt die Registriernummer 375 zugewiesen und ein Bett, das er sich mit einem anderen Jungen teilen muss. Sam versucht mit ihm zu kaspern, doch Uwe kaspert nicht. Er bleibt weiter stumm. Lacht nicht. Weint auch nicht. „Die ersten Tage waren die schlimmsten“, sagt der 14-jährige Felix, der den Neuen an der Hand nimmt. Felix lebt seit zwei Jahren im Hexenasyl. Ein Onkel warf ihm im Dorf vor, ein Hexer zu sein. Nach dem Tod des Vaters hatte das Kind größere Ländereien geerbt, die der Onkel ihm neidete. Fünf junge Männer mit Messern und Macheten führten Felix eines Morgens in den Busch, damit er ihnen bei der Feldarbeit helfe. Sie rodeten eine kleine Parzelle, gruben ein Loch für die Hasenjagd, wie sie sagten. „Schau mal, ob es schon tief genug ist“, drängten sie ihn, näherzutreten. „Mach eine Grube, und wirf ihn hinein. Bedecke ihn mit Finsternis.“ Henoch 10,4. So lehren die Priester ihre Gemeinde, mit Dämonenkindern zu verfahren.
Felix lief weg, eine halbe Stunde verfolgten sie ihn, bis er an der Straße einen Autofahrer stoppte, der von dem Hexenkinderheim wusste und ihn dorthin brachte. „Wenn ich groß bin“, sagt Felix, „kehre ich zurück und kämpfe um das Land meines Vaters.“ Die jungen Bewohner des Zentrums haben alle ähnliche Geschichten zu erzählen. Die Kleinste ist zwei Jahre alt, der älteste 15. Die Gesichter vieler sind von Narben zerstört, sie zeichnen Spuren von Messern. Sie wurden von Säure verätzt, Brandflecken bedecken ihre Körper. Einigen fehlen Fingerglieder, die die Eltern ihnen abschnitten, damit sie bekennen. Einem 13-jährigen Mädchen hat sein Vater einen Nagel in den Schädel getrieben. Nur ein Wunder kann erklären, dass sie die Tortur überlebte.
Retter in Lebensgefahr: „Keiner ist glücklich über uns.“
Die Normalität versucht Sam den Kindern im Zentrum zurückzugeben, oder zumindest ein Stück davon. Er stellte acht Lehrer ein. Baute Klassenzimmer, in denen sich 28 Schüler vier Bänke teilen, schickt die Älteren wie Felix hinaus auf weiterführende Schulen, lässt einige bei Handwerksmeistern ihre Wunschberufe lernen. Es gibt feste Essenszeiten und morgens um 7 Uhr eine Parade, bei der sie in blau-weißen Schuluniformen vor der nigerianischen Flagge antreten. Die Unicef unterstützt das Projekt.
Von Großbritannien aus gibt die kleine Hilfsorganisation Stepping Stones Nigeria etwas Geld. Doch ansonsten ist Sam Ikpe-Itauma auf sich und Unterstützer vor Ort angewiesen. Die so zahlreich nicht sind. „Keiner ist glücklich über uns.“
Der Gouverneur von Akwa Ibom beschuldigt ihn in Fernsehinterviews, den Ruf des Landes zu ramponieren. Er droht mit Haftbefehlen. Die von ihm kontrollierten Lokalzeitungen bezichtigen CRARN des Kinderhandels, ohne einen konkreten Fall zu nennen. Pastoren heuerten Polizisten in Zivil an, beklagt Sam, um ihn zu bedrohen. Im September floh er über das Dach seines Hauses, die Kinder, die er rief, gaben ihm Rückendeckung. Sie brüllten und boxten gegen die bewaffneten Angreifer, zerstachen die Reifen ihrer Motorräder. Sam ist extrem nervös dieser Tage. Er verbringt jede Nacht in einem anderen Haus. Um die Behörden nicht noch mehr zu provozieren, verzichtet er zunächst auf den Ausbau des Zentrums. Nur in Ausnahmefällen nimmt er neue Kinder auf.
Es ist nun Felix, der den Platz im Minibus einnimmt, auf dem zwei Tage zuvor der kleine Uwe saß. Erstmals seit der Flucht fährt ihn der Sozialarbeiter Jehu in sein altes Dorf. Der Besuch ist Teil des Re-Integrationsprogramms, das Eltern und ihre Kinder miteinander versöhnen soll. 150 Kinder kehrten auf diese Art in den letzten Jahren in ihre Familien zurück. „Wir kontrollieren, dass sie nicht getötet werden“, sagt Jehu, der alle paar Wochen die wiedervereinigten Familien besucht. Er zahlt ihnen Hilfe zum Lebensunterhalt, verschafft ihnen Jobs, hilft ihnen bei Umzügen, falls die Nachbarn die vermeintlichen Hexer weiter attackieren.
Als sich der Wagen dem Dorf nähert, ist eine große Gruppe junger Männer auf der Straße. Jehu stoppt auf einer Anhöhe, Felix starrt zwischen den Frontsitzen nach vorne. Die Männer beginnen auf sie zuzurennen, mit durchgeschwitzten Shirts, blutgeweiteten Augen. Sie schwingen lange Macheten, rostige Klingen, die sie sonst zur Feldarbeit verwenden. Jehu verriegelt die Türen. „Die gehören zur Dorfmiliz meines Onkels“, sagt ihm der Junge. Der Besuch war beim Großvater telefonisch angekündigt, Jehu hofft, in keine Falle geraten zu sein. Doch die Männer rasen an ihnen vorbei, Felix sieht aus der Nähe den weißen Schaum auf ihren Mündern. Wieder eine Hexenjagd, ausgelöst durch einen unerklärlichen Todesfall im Dorf. Doch dieses Mal jagen sie nicht Felix.
„Die sind hinter einer Ziege her“, sagt der Großvater. Ihm sind Fragen nach dem Zwischenfall unangenehm. Felix umarmt seine Geschwister, sie klopfen ihm auf die Schulter, aber der Besuch bleibt kurz. Sprachlos sitzen er und sein Großvater sich gegenüber. Der Sozialarbeiter klärt den Mann über seine gesetzlichen Fürsorgepflichten auf, darüber, dass Kinder nicht diskriminiert oder verletzt werden dürfen. Teilt CDs mit Liedern gegen die Stigmatisierung von Kinderhexen aus. „Er kann jederzeit zu mir kommen“, meint der Großvater beim Abschied. „Sie würden mich töten. Ich bleibe im Heim“, sagt Felix auf der Rückfahrt.
100 Dollar für eine Kindstötung
Der Teufel hat Konjunktur. Die Menschen kämpfen gegen Schatten. Ein Bischof behauptete neulich vor laufender Fernsehkamera, er habe bei Exorzismen 110 Hexenkinder getötet. Im Zentrum zieht sich Felix die nächsten Tage zurück, Uwe trägt noch seinen Sonntagsanzug. Er steigt im Hof auf den einzigen Baum, klettert höher und höher, als wolle er hinausklettern aus dieser Welt. Er freundet sich mit einem weiteren Neuankömmling an, Sam hat wieder eine Ausnahme gemacht. „Das ist Benji“, sagt der CRARN-Mitarbeiter, der ihn ins Heim bringt. Ein Siebenjähriger, der immertraurig in einem viel zu großen schwarzen Wollpullover steckt. Er greift nach den Händen von Erwachsenen, sobald sie in seine Reichweite kommen. „Sein Vater weiß nicht, dass ich hier arbeite“, sagt Sams Angestellter. „Er bot mir hundert Dollar, wenn ich ihn umbringe.“ Er nahm das Geld und brachte das Kind ins Zentrum. „Wie hast du ihn getötet“, erkundigt sich der Vater nach einigen Tagen. „Ich hab ihn in den Kopf geschossen“, antwortet Sams Mitarbeiter. „Dann ist es gut“, meint der Vater. Uwe und Benji werden zu Freunden, im rauen Heimalltag brauchen sie einander.
Es sind die irgendwie Auffälligen, die von ihren Eltern verstoßen werden, die besonders schönen oder hässlichen. Die besonders klugen oder stillen. Immer stammen die Opfer aus armen Familien. Die meisten besitzen nur noch ein Elternteil, weil das andere verstarb oder die Familie verließ. Die selbst ernannte Pastorin Helen Ukpabio verfasste eine Gebrauchsanleitung zur Auffindung von Kinderhexen. In Buchform ist sie auf allen Märkten erhältlich. Ein vom Dämon besessenes Kind, schreibt sie, wird „von seinem zweiten Lebensjahr an ungewöhnlich frech, erzählt viele Lügen, stiehlt, wird widerspenstig und erfindet Geschichten.“ Auch Fieberschübe und Schlafwandlerei identifiziert die Kirchenfrau als Zeichen von Besessenheit. Wie viele Pastoren hat sich Helen Ukpabio mit der Filmindustrie Nollywoods zusammengetan. Sie lässt Lehrstücke als Dramen drehen. Ihr größter Erfolg, „Das Ende des Bösen“, gab 1999 das Fanal für die Hatz. Der Film ist in Nigeria nicht verboten.
Überleben im Rudel
Sam ist untergetaucht, es fahren Fremde auf Motorrädern durch die Stadt und erkundigen sich nach ihm.Zudem kursieren Gerüchte, der Gouverneur habe Auftragskiller auf ihn angesetzt. Noch einmal bricht der Sozialarbeiter Jehu auf, um ein Leben zu retten. Im Fischerhafen von Ibaka, anderthalb Autostunden entfernt, leben Hexenkinder in Rudeln. Die Eltern setzen sie hier aus, in der Hoffnung, dass Krankheiten besorgen, was sie selbst nicht übers Herz bringen. Jehu und ein Begleiter laufen ins Menschengewirr, Schlammpfade winden sich durch das Hüttenlabyrinth. Die Erde ist getränkt von Fäkalien und Fischgedärm.
Wie gejagte Tiere kauern die Kinder an den Mauern der Bootsanleger, hektisch atmend, die Blicke wild. Einige rennen weg. Erwachsene sind ihre natürlichen Feinde. Sie ernähren sich von rohen Fischabfällen, die ihnen die Seeleute lassen. Jehu kniet sich zu den Kindern hinunter, mustert sie, schätzt ihren Gesundheitszustand ein. Ein Informant gab am Telefon den Hinweis, ein Mädchen am Hafen leide unter lebensbedrohlichem Durchfall. Jehu findet sie zwischen zwei Netzen, inmitten von Fischgedärm. Sie heißt Stella Afiong, neun Jahre alt. Beim Stehen zittert sie am ganzen Körper. Die Stiefmutter, erzählt das Kind, beschuldigte sie nach dem Tod ihrer Mutter, eine Hexe zu sein. Der Vater brachte sie vor zwei Monaten hierher. Sie leidet unter epileptischen Anfällen. Feindselig schaut sie Jehu an, bald ängstlich, dann neugierig.
Eine Frau erscheint am Wagen, als Stella einsteigt. Ihren vierjährigen Sohn hält sie an der Hand. Sein Gesicht ist mit Schorf überzogen. Ein kleiner Beutel mit seinen Habseligkeiten klemmt unter dem Arm der Frau. „Nehmt ihn bitte“, fleht sie. „Er ist ein böser Geist.“ Jehu schließt die Tür. Stumm sehen Mutter und Kind dem Wagen nach, der hinter der nächsten Biegung verschwindet.