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Müntefering lehnt Geburtenappell ab

Müntefering lehnt Geburtenappell ab

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Foto: ddp

Berlin. 

Ex-SPD-Chef Franz Müntefering hält nichts davon, die Geburtenrate in Deutschland mit Appellen zum Kinderkriegen zu erhöhen. „Es ist ein großer Fortschritt, dass die Paare souverän entscheiden können“, sagt der 70-Jährige im Interview.

2011 will Schwarz-Gelb einen Bericht zur Demografie vorlegen. Die Antwort der SPD heißt: Franz Müntefering (70). Ihr Ex-Chef leitet eine Ar­beitsgruppe zur Demografie. Über die älter werdende Gesellschaft sprachen Mi­guel Sanches und Julia Emmrich mit Franz Müntefering.

Herr Müntefering, was reizt Sie an der Demografie?

Franz Müntefering:

Sie ist wie ein großer Tanker. Wenn er in die falsche Richtung fährt, muss man früh umsteuern, und zwar an mehreren Rädern gleichzeitig. Nötig ist ein Gesellschaftsentwurf, der auf 30, 40 Jahre ausgerichtet ist. Persönlich ist mir das Thema noch wichtiger, seit ich Pflege, Palliativmedizin und ambulantes Engagement erlebt habe.

Wird die Krankenversicherung überfordert?

Müntefering:

Nein. Die schweren Krankheiten kommen später. Älter werden heißt nicht längeres Siechtum. Die größeren Probleme sehe ich eher bei der Pflege. Die gesetzliche Versicherung wird es bald nicht mehr schaffen. Die Bundesregierung will eine obligatorische kapitalgedeckte Zusatzversicherung einführen. Ich bin dafür, private und gesetzliche Pflegekassen zu einer Pflegebürgerversicherung zusammenzulegen. Das ist sicherer.

Weiß die Politik, was für ein Problem auf sie zurollt?

Müntefering:

Das Problem ist nicht tief genug in den Köpfen. Wir und die Gesellschaft blicken zu oft, zu sehr auf die nächste Wahl, um da gut auszusehen. Aber bei der Demografie muss man Dinge tun, die sich erst in 20 Jahren auszahlen. Entscheidend ist die Bildung. Sie ist unsere Alterssicherung von morgen. Sie kann Wohlstand sichern. Keiner darf aus der Schule in die Arbeitslosigkeit fallen. Wir müssen Hartz IV den Nachschub abschneiden.

Glauben Sie, dass die Geburtenrate wieder steigt?

Müntefering:

Ich halte nichts von Appellen nach dem Motto „Habt jetzt mehr Kinder“. Es ist ein großer Fortschritt, dass die Paare souverän entscheiden können, ob, wann und wie viele Kinder sie haben. Ich hatte eine Großmutter, die 13 Kinder geboren hat. Die Frauen waren früher mit 35 vom Kinderkriegen erschöpft. Wir sollten nicht jammern über die Kinder, die wir nicht haben. Wir sollten uns mehr um die Kinder kümmern, die da sind.

Ist Zuwanderung eine Lösung?

Müntefering:

Alle Statistiken unterstellen, dass jedes Jahr 100 000 Zuwanderer netto neu dazukommen. Wir sind heute 81 Millionen. Ohne Zuwanderer sind wir im Jahr 2050 nur noch 64 Millionen, sonst 68 bis 70. Also: Hilfe ja, Lösung nein.

Ein Integrationsproblem sehen Sie nicht?

Müntefering:

Ja, aber es ist lösbar. Das Grundgesetz gilt für alle. Bildung und Integration gehören näher zusammen, Schule und Elternhaus auch. Bund, Länder und Gemeinden müssen abgestimmt handeln. Sonst müssen Zuständigkeiten geändert werden.

Kann eine vergreiste Ge­sellschaft innovativ genug sein?

Müntefering:

Wer ist wann ein Greis? Schablonen helfen nicht. Je älter die Menschen werden, desto unterschiedlicher sind sie. Ein 80-Jähriger sieht aus wie sein eigener Sohn und der andere wie sein eigener Vater. Ich möchte eine Gesellschaft, die das Potenzial der Älteren nutzt, und wir werden – relativ gesund – immer älter. Fatal wäre es, wenn sich jeder mit 65 in den Schaukelstuhl setzt.

Aber wird das Gesetz über die Rente mit 67 der Lebenswirklichkeit gerecht?

Müntefering:

Das Gesetz ist richtig. Wir haben einen großen Sprung gemacht. 2000 waren 10,7 Prozent der 60-Jährigen und älteren im Berufsleben. Heute sind es 21,5 Prozent. Das hat sich verdoppelt. Die Kohorte der heute über 50-Jährigen wird in Beschäftigung bleiben, weil es die Frühverrentung nicht mehr gibt und weil die Betriebe allmählich die richtigen Schlüsse ziehen. Sie haben in der Krise ihre Belegschaften auch zusammengehalten, weil sie genau wussten, dass sie später Fachkräfte brauchen werden, auch ältere. Denn sie sind gut.

Bitte beenden Sie die folgenden Sätze. „Ein soziales Jahr für Senioren sollten wir anbieten, weil…“

Müntefering:

…sich viele Ältere ehrenamtlich engagieren. Das könnten noch mehr sein.

„Wer fürchtet, dass verschärfte demografische Konflikte zur Gründung einer neuen populistischen Partei führen könnten, ist…“

Müntefering:

…nicht unrealistisch.

„Die Vorstellung, das Jahr 2050 selbst nicht mehr zu erleben, erfüllt mich mit…“

Müntefering:

…Gelassenheit. Ich werde dann im Himmel sein oder wo Sozialdemokraten hinkommen.