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Kindergrundsicherung: Expertin mit dringendem Appell – „Sind uns Kinder und junge Menschen nichts mehr wert?“

Die Kindergrundsicherung ist zum Dauer-Streitthema der Ampelkoalition geworden. Die Sommerpause rückt näher, eine Einigung ist noch nicht in Sicht.

Die Kindergrundsicherung ist zum Dauer-Streitthema der Ampelkoalition geworden. Die Sommerpause rückt näher, eine Einigung ist noch nicht in Sicht.
© IMAGO / epd SOS-Kinderdorf / André Kirsch

Das ist die Kindergrundsicherung

Die Bundesregierung plant eine Kindergrundsicherung, die Kinder finanziell unterstützen soll. Eine Arbeitsgruppe sitzt aktuell an der Konzeption einer Kindergrundsicherung.

Familien mit geringem Einkommen haben Anspruch auf unterschiedliche finanzielle Leistungen. Doch einen Überblick im Behörden-Dschungel zu behalten, fällt oft schwer – die Unterstützungen müssen an verschiedenen Stellen beantragt werden. Die Kindergrundsicherung will Abhilfe schaffen und soll das Kindergeld, den Regelsatz für Kinder im Bürgergeld, Teile des Bildungs- und Teilhabepakets sowie den Kinderzuschlag bündeln.

Außerdem soll sie der Armut von Kindern und Jugendlichen in Deutschland entgegenwirken. Sabina Schutter ist Vorstandsvorsitzende von SOS Kinderdorf und spürt diese jeden Tag in ihrer Arbeit. Im Interview erklärt die Expertin für Kindheit, Geschlecht und Familie, was gegen Kinderarmut getan werden muss.

Kindergrundsicherung: „Armut ist vielschichtiges Problem“

Wie erleben Sie Kinderarmut in Ihrer täglichen Arbeit?

Wir merken sehr deutlich, dass mehr junge Menschen in Jugendzentren kommen, wenn es dort etwas zu Essen gibt, also zum Beispiel gemeinsam gekocht wird. Immer öfter werden wir nach Zugängen zur Tafel gefragt. Das andere ist, dass wir merken, dass das Anspannungsniveau in den Familien steigt. Wenn man am zwanzigsten des Monats nicht mehr weiß, wo man das Essen herbekommen soll, dann sind die Eltern wesentlich mehr unter Druck, die Zündschnüre kürzer. Dies kann auch zu mehr Konflikten in den Familien führen. Armut ist ein vielschichtiges Problem. Denn: Sie wirkt sich nicht nur auf die Lebensbedingungen aus, sondern tatsächlich auch auf das Familienklima und die Beziehungen innerhalb von Familien.

In Deutschland ist jedes fünfte Kind und jeder fünfte Jugendliche von Armut bedroht oder betroffen. Was muss die Bundesregierung dagegen tun?

Es braucht einen mehrdimensionalen Ansatz. Zum einen die monetäre Unterstützung, die durch die Kindergrundsicherung verbessert werden sollte. Zum anderen braucht es eine Befähigung von Familien mit Haushalts- und Wirtschaftskompetenzen, die Begleitung von Familien in schwierigen Lebenslagen, Angebote wie Schuldnerberatung und nicht zuletzt die Unterstützung der Bildung der Kinder. Gerade diese offenen und niedrigschwelligen Angebote sind es, die Familien in Armut ganz besonders unterstützen. Man muss auf mehreren Ebenen gleichzeitig ansetzen, damit Familien nachhaltig aus der Armut raus- und in den Arbeitsmarkt reinkommen.

Inwiefern kann die Kindergrundsicherung gegen Kinderarmut helfen?

Ich habe kürzlich eine Familie mit vier Kindern besucht, die von einer sozialpädagogischen Familienhilfe begleitet wird. Die Mutter arbeitet im Schichtdienst, der Vater ist chronisch krank. Für jedes Kind gibt es Stapel an Unterlagen allein für den Kinderzuschlag. Wenn Eltern dann noch Schwierigkeiten haben, zu lesen oder zu schreiben oder wenn sie schlechter deutsch sprechen, dann sind solche Formulare eine unlösbare Hürde. Der Vater sagte zu mir: ‚Dieser Lindner, der gegen die Kindergrundsicherung ist, der soll mal bei uns vorbeikommen und versuchen, dieses Papier auszufüllen‘. Das hat mich sehr beeindruckt. Denn: Wenn die Antragsverfahren einfacher sind, dann können ganz viele Kinder aus der verdeckten Armut geholt werden.


Foto: SOS-Kinderdorf / André Kirsch

„Verschiedene Lebensrealitäten von Kindern müssen berücksichtigt werden“

– Sabina Schutter, SOS Kinderdorf

Wie muss die Kindergrundsicherung gestaltet sein?

Durch den Kindergrundsicherungs-Check sollen Eltern direkt online einsehen können, wie viel Geld sie bekommen. Idealerweise sollte man so dann direkt die Kindergrundsicherung beantragen können. Das ist wichtig, denn es braucht direktere einfachere Wege, Familien in Armut zu erreichen. Es braucht Anlaufstellen, Beratungen – Wege müssen vereinfacht werden.

Kindergrundsicherung: „Familien stärken“

Das Forum für Soziale Inklusion bemängelt: Nur Haushalte, in denen die Kinder gemeldet sind, sollen antragsberechtigt sein. Für den zweiten Haushalt einer Trennungsfamilie kann das zum Problem werden. Ist der Vorschlag von Lisa Paus also ungerecht?

Das Problem ist komplex: Die Lebensrealität von Kindern mit getrennten Eltern unterscheiden sich grundsätzlich von denen mit zusammenlebenden Eltern. Im Grunde gibt es zwei Kinderzimmer, beide Eltern müssen Kosten für Nahrungsmittel und Reisen stemmen. Diese Mehrkosten müssen berücksichtig werden, die Frage ist nur wo – im Unterhaltsrecht oder in der Kindergrundsicherung? Ich finde den Vorschlag als solchen nicht ungerecht. Aber: Die verschiedenen Lebensrealitäten von Kindern müssen berücksichtigt werden.

Erwerbstätigkeit ist der erste Schutz vor Kinderarmut

Sabina Schutter, Vorsitzende SOS Kinderdorf

An welchen Stellschrauben muss im deutschen Sozialsystem gedreht werden, um die Kinder- und Jugendarmut zu beenden?

Der erste Schritt ist eine qualitativ hochwertige, umfassende Kindertagesbetreuung, um Müttern und alleinerziehenden Müttern einen guten Einstieg in die Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Erwerbstätigkeit ist der erste Schutz vor Kinderarmut. Der zweite Schritt ist die gerechte Entlohnung. Hinzu kommen dann die Instrumente für die monetäre Absicherung von Kindern. Es geht darum, Familien so zu stärken, dass sie gar nicht in Armutslagen kommen. Und: Kinder, die nicht bei ihren Eltern aufwachsen können, müssen bei ihrem Weg ins Leben so unterstützt werden, dass sie eine faire Chance auf Teilhabe haben.


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Olaf Scholz und Lisa Paus zeigen sich zuversichtlich über die Realisierung des Projekts. Doch bald geht es in die Sommerpause. Eine Einigung ist noch nicht in Sicht. Haben Sie Vorwürfe an die Politik?

Nein. Wir haben eine schwierige Haushaltssituation, finanzielle Mittel müssen priorisiert werden. Eins ist aber klar: Wer eine Kindergrundsicherung mit zwei Milliarden Euro umsetzen will, kann nur wenig erreichen. Was einmal als große Reform angekündigt war, um bessere Chancen für Kinder und Jugendliche zu schaffen, wird jetzt gerade auf das absolute Minimum reduziert. Sind uns Kinder und junge Menschen nichts mehr wert? So riskieren wir nicht nur ihre Zukunft, sondern auch die unserer Gesellschaft.