Gehörlose Julia Probst will für die Piraten in den Bundestag
Ihren Twitter-Nachrichten folgen mehr als 23 000 Menschen. Jetzt will Julia Probst alias @EinAugenschmaus als Abgeordnete in den Bundestag gewählt werden. Die 31-Jährige Bloggerin wäre die erste Gehörlose unter den Abgeordneten. Sie kandidiert für die Piratenpartei in Baden-Württemberg.
Berlin.
Julia Probst kann Angela Merkel ihre Forderungen von den Lippen ablesen. Ihre eigenen Wünsche im Parlament äußern kann sie bislang nicht. Das soll sich 2013 aber ändern. Dann will Julia Probst für die Piratenpartei in den Bundestag einziehen – als erste Gehörlose in Deutschland. Den rund 80 000 Deutschen ohne Gehör möchte die 31-Jährige damit eine Stimme geben.
Probst wurde im September von den Piraten in Baden-Württemberg auf Landeslistenplatz drei gewählt. Mit ihr will die Partei wieder über die Fünf-Prozent-Hürde kommen. „Die würden mir reichen, dann wäre ich direkt dabei.“ Auf ihrer Agenda stehen Themen, die Menschen mit Behinderung helfen sollen – etwa die Einführung eines SMS-Notrufs für Gehörlose und Stotternde oder die Befreiung von GEZ-Gebühren für Blinde und Schwerhörige.
Twitter als „Revolution“ für viele Gehörlose
Probst zählt zu den wenigen Gehörlosen, die nicht in Gebärden, sondern verbal kommunizieren. „Meine Stimme ist nicht perfekt – aber sie ist eben meine Stimme“, sagt Probst. Das gefällt nicht jedem: Nach einem Auftritt in der ZDF-Sendung „Log in“ Ende November beleidigten sie einige Twitter-User wegen ihrer leicht verzerrten Sprechweise. Sie spielte mit dem Gedanken, sich wieder zurückzuziehen. Probst wurde daraufhin auf Twitter in „Flausch“ gepackt – so bezeichnen die Piraten nette und aufbauende Kommentare. Führende Piraten wie der politische Geschäftsführer Johannes Ponader stellten sich hinter sie.
Dabei ist das Internet gerade das Werkzeug, das für viele Gehörlose eine „Revolution“ gewesen sei, sagt Probst. Sie selbst wurde durch Twitter einem breiteren Publikum bekannt. Während der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 las sie den deutschen Spielern ihre Flüche von den Lippen ab und twitterte sie. Begeisterte Fans folgten ihr – bis heute hat Probsts Account „EinAugenschmaus“ mehr als 23 000 „Follower“.
Lippenlesen konnte Probst schon als Kind
„Ohne Social Media wäre ich nicht so weit gekommen“, sagt die Gehörlose. Plötzlich konnte sie ihre Meinung für alle verständlich mitteilen. Sie wurde so bekannt, dass sich Twitter-Erfinder Jack Dorsey mit ihr zum Abendessen traf.
Lippenlesen konnte Probst schon als Kind. Auf einer normalen Schule in ihrem Heimatstädtchen im Kreis Neu-Ulm perfektionierte sie es dann. Die Gebärdensprache lernte sie erst mit 17. Nicht viele Gehörlose können auf hohem Niveau von den Lippen ablesen. Politische Debatten seien für Menschen ohne Gehör deshalb nur schwer nachzuverfolgen – vor allem auch, weil die Debatten bisher nicht mit Untertiteln oder in Gebärdensprache angeboten werden, sagt Probst. Niemand habe in Themen wie der Eurokrise mehr einen Durchblick – wie sollen das dann Gehörlose verstehen, wenn es ihnen niemand erklärt?
Zur Politik kam sie ausgerechnet durch CSU-Chef Horst Seehofer. Dass er den Fiskalpakt für mehr Haushaltshilfe mit Gegenleistungen bei der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen verknüpfte, hat sie erbost. Seitdem ist Probst aktive Piratin. Ihre Vorbilder sind US-Präsident Barack Obama und Martin Zierold, der als gehörloser Grünen-Politiker im Bezirksparlament in Berlin-Mitte sitzt. (dpa)