Wirtschaftsverbände klagen seit Jahren über einen angeblichen Fachkräftemangel. Das ist maßlos übertrieben, kritisieren Arbeitsmarktforscher. Nicht zuletzt diene die Klage über die vermeintliche Fachkräfte-Knappheit auch dazu, den Lohndruck auf die Arbeitnehmer aufrecht zu erhalten.
Berlin.
Deutschland gehen die Ingenieure aus. Und zunehmend auch Fachkräfte in anderen Berufen. Das zumindest behaupten Wirtschaftsverbände und Unternehmen. Die Bundesregierung hat sich dieser Sichtweise weitgehend angeschlossen, wie der am Mittwoch vorgelegte Fachkräftebericht von Bundesarbeitsministerin von der Leyen (CDU) erneut zeigt.
Der Verband der Ingenieure (VDI) etwa rechnet jeden Monat vor, wie viele Fachleute angeblich gerade fehlen. Im vergangenen Dezember sollen es fast 72 000 Stellen gewesen sein, die Unternehmen trotz händeringenden Suchens nicht besetzen konnten. Wegen der Konjunkturflaute seien das zwar 5000 weniger offene Stellen als im November.
Dennoch: Der VDI macht unverändert „spürbare Engpässe“ aus und sieht „weiterhin Probleme bei der Rekrutierung von Ingenieuren“. Allerdings: Die Hochrechnung des VDI ist umstritten – denn sie rechnet einfach die Zahl der bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) registrierten offenen Stellen mit dem Faktor fünf hoch.
Kaum jemand hinterfragt die Zahlen
Tausende arbeitslose Ingenieure nehmen die Meldungen vom Fachkräftemangel nur noch mit Befremden zur Kenntnis. Trotz hervorragender Ausbildung will es vielen einfach nicht gelingen, eine Stelle zu finden. Selbst wenn man berücksichtigt, dass nicht jeder Deckel auf jeden Topf passt: Die Realität am Arbeitsmarkt hat bei näherer Betrachtung nicht mehr viel zu tun mit dem Bild vom allgegenwärtigen Fachkräftemangel, das die Wirtschaft seit Jahren zeichnet. Mit Erfolg: Kaum je wird hinterfragt, wie belastbar die Zahlen der Wirtschaftsverbände sind – Politik und Medien haben den vermeintlichen „Fachkräftemangel“ längst als quasi-objektive Realität akzeptiert.
Den gewerkschaftsnahen Forscher Gustav Horn ärgert das: „Von einem Fachkräftemangel in Deutschland kann man sicher nicht sprechen“, sagt der wissenschaftliche Direktor des Düsseldorfer Forschungsinstituts IMK. „Es ist für Unternehmen aber nicht mehr ganz so bequem wie früher, in Zeiten sehr großer Arbeitslosigkeit, neue Leute zu finden“, sagt Horn im Gespräch mit der NRZ. Vor ein paar Jahren noch hätten sich die Unternehmen ihre neuen Leute wie maßgeschneidert aussuchen können, im gewünschten Alter mit passgenauen Qualifikationen. „Heute ist der Arbeitssuchende eventuell älter, oder er kommt aus der Arbeitslosigkeit“, sagt Horn. „Vielleicht ist er auch anders qualifiziert, verlangt mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen.“ Mit anderen Worten: Es ist aufwendiger und bisweilen teurer für die Betriebe, passende Mitarbeiter zu finden. Aber ein echter Fachkräftemangel?
„Eher Überangebot als Knappheit“
Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) glaubt den Warnrufen aus der Wirtschaft nicht. „Unsere Analysen besagen, dass es bis weit in das nächste Jahrzehnt hinein gar keinen Fachkräftemangel geben wird“, sagt der Arbeitsmarktforscher. Im Gegenteil: Durch einen „Run auf ingenieurwissenschaftliche Studienplätze“ erwartet Brenke „eher ein Überangebot als eine Knappheit“ auf dem Arbeitsmarkt. Also eine Art Schweinezyklus, der für Ingenieure gerade erst begonnen hat. Das Überangebot von den Unis dürfte noch verstärkt werden durch die Lockerung der Zuwanderungsregeln für Fachkräfte aus dem Nicht-EU-Ausland (Blue Card).
Wenn immer mehr Ingenieure auf den Arbeitsmarkt drängen, könnte dies einen spürbaren Lohndruck und womöglich einen Verdrängungswettbewerb entfachen, der vor allem zulasten älterer Fachkräfte ginge, befürchtet Brenke. Ähnlich wie in den achtziger Jahren bei den IT-Fachleuten könnte das Land so bald eine Ingenieurschwemme erleben – zu Lasten der Arbeitnehmer, aber zur Freude der Unternehmen. Denn: Je höher das Angebot an Arbeitskräften, desto besser können sie bei der Besetzung von Stellen ihre Interessen bei der Lohnhöhe, der gewünschten Flexibilität der Mitarbeiter und ihre Ansprüche an deren Qualifikationen durchsetzen.
Brenkes stärkstes Argument gegen den vermeintlichen Fachkräftemangel ist der Preis: Bei hoher Nachfrage der Unternehmen nach Ingenieuren müsste es bereits eine erkennbare Anpassungsreaktion am Markt gegeben haben. Die Preise, also die Löhne, hätten bei echter Knappheit längst steigen müssen. Sind sie aber nicht – jedenfalls nicht unüblich und schon gar nicht auf breiter Front.
Meisterstück der Lobbyisten?
„Eine Tendenz zu höheren Löhnen sehen wir nur punktuell“, bestätigt Alexander Kubis vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Auch das IAB sieht keinen flächendeckenden Fachkräftemangel, wohl aber das Ende des einstigen „Schlaraffenlandes“ für die Unternehmen. Grund zur Klage gibt es also – aber eben aus anderen Gründen. Offenbar werden die Fakten gebeugt und zu Halbwahrheiten verpackt.
Der Fachkräftemangel – nichts als ein Mythos, eine Fata Morgana (Brenke)? Ein Meisterstück der Wirtschaftslobbyisten, um die Öffentlichkeit an der Nase herumzuführen und den Druck auf die Arbeitnehmer zu erhöhen? Für diese Sichtweise sprechen einige handfeste Indizien. Vor allem die Pauschalität, mit der der Fachkräftemangel beschworen wird, ist eine Chimäre. Aber eben auch nicht nur ein Trugbild: In einzelnen Ingenieurberufen, in machen Betrieben und in gewissem Regionen werden Ingenieure bisweilen tatsächlich knapp. Ebenso Fachkräfte im Gesundheitswesen oder in Pflegeberufen. Das hat aber auch damit zu tun, dass hier die Preise staatlich reguliert werden. Und ja, auch die kommende demografische Entwicklung lässt sich nicht leugnen.
Ob daraus in zehn oder 20 Jahren aber tatsächlich ein echter Fachkräftemangel erwächst, kann heute niemand sicher voraussagen. Denn das hängt zum Beispiel auch davon ab, wie viele Fachkräfte zuwandern und sich die Unternehmen auf die neue Entwicklung einstellen.