Die Bundesrepublik ist – neben Tschechien – das einzige Land in Europa, in dem Sexualverbrechern – auf eigenen Wunsch – die Hoden entfernt werden. Es geht um Einzelfälle. Und es geht um den alten Wettstreit zwischen Sicherheit und Menschenwürde.
Straßburg.
Zwar ist der Fall des Jürgen Bartsch schon lange Geschichte – jenes Vergewaltigers und Mörders, der in Velbert-Langenberg vier Kinder umbrachte. Der später in seine eigene Kastration einwilligte. Und der dann auf dem OP-Tisch im Landeskrankenhaus Lippstadt-Eickelborn verstarb, weil bei dem Eingriff gepfuscht wurde. 1976 war das, aber die Geschichte konnte einem wieder in den Sinn kommen, als gestern das Anti-Folterkomitee des Europarates seinen Deutschland-Bericht vorlegte.
Deutschland steht in der Kritik, weil es als eines von nur zwei Ländern in Europa die chirurgische Kastration von männlichen Sexualstraftätern betreibt. Das Anti-Folter-Komitee des Europarates sprach in seinem am Mittwoch veröffentlichten Deutschland-Bericht zwar von niedrigen Fallzahlen von „weniger als fünf pro Jahr“; doch sei die Kastration ein „verstümmelnder, irreversibler Eingriff“, der bei der Behandlung von Sexualstraftätern nicht medizinisch notwendig sei. Deutschland solle die Praxis beenden und seine Gesetze ändern.
Die Hürden sind hoch, die Fallzahlen niedrig
Orchiektomie – so nennen Chirurgen das Entfernen von einem oder beiden Hoden. Durchgeführt wird sie mit dem Skalpell, der Durchschnittsmann fürchtet sie als Maßnahme bei Hodenkrebs. Männern, die wegen ihres übermächtigen Sexualtriebs vergewaltigt und vielleicht sogar gemordet haben, wird die Orchiektomie manchmal als Therapie angeboten. Denn die Hoden produzieren das männliche Sexualhormon Testosteron. Und den Testosteron-Spiegel zu senken, gilt als erfolgversprechende Therapie. Sie wird nur mit Einwilligung des Betroffenen vorgenommen. Der Europarat zweifelt aber an der Freiwilligkeit, weil die Kastration als Therapie gilt und untherapierten Sexualstraftätern in Deutschland die Sicherungsverwahrung droht.
Es ist, das gibt auch der Europarat zu, eine Seltenheit. Die Hürden sind hoch, mancher Straftäter beantragt eine Kastration und bekommt sie nicht. Weniger als eine handvoll Fälle gibt es jedes Jahr in Deutschland. Doch die Beobachter aus Straßburg verweisen darauf, dass seit Einführung des deutschen Kastrationsgesetzes 1969 schonendere Methoden entwickelt worden seien: Eine Hormonbehandlung etwa, die die Zeugungsfähigkeit nicht für alle Zeiten zerstört. Das heißt: Auch die möglichen Nebenwirkungen einer Kastration können irgendwann wieder abgestellt werden – Depressionen, Antriebsschwäche, Stoffwechselstörungen, Diabetes, Osteoporose…
Nur drei Prozent Rückfallquote – sagt Berlin
Die Bundesregierung hat auf den Appell aus Straßburg schon reagiert. Sie rechtfertigt die deutsche Praxis (die es so in Europa nur noch in Tschechien gibt) mit guten Erfolgsaussichten. So habe eine Untersuchung 1997 gezeigt: Kastrierte Sex-Täter hatten eine Rückfallquote von drei Prozent, nicht-kastrierte eine von 46 Prozent. Berlin äußerte aber Verständnis für moralische Bedenken – und kündigte an, die Diskussion über das Thema in Gang zu halten.