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Bundeskanzler Scholz empfängt am Freitag den türkischen Präsidenten Erdogan. Für viele ein Beleg für die Doppelmoral der Bundesregierung.
Der bevorstehende Deutschlandbesuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan löst breite Kontroversen aus. Angesichts der jüngsten türkischen Militäroffensiven gegen kurdische YPG-Stellungen in Syrien und der Bagatellisierung von Hamas-Aktionen in Israel steht Erdogan zunehmend in der Kritik. Experten und Politiker werfen der Bundesregierung vor, mit zweierlei Maß zu messen.
Aus dem Bundestag kommt deutlicher Gegenwind: Die außenpolitische Sprecherin Sevim Dagdelen forderte in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur „AFP“, dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Einladung an Erdogan zurückziehen solle. „Inmitten dieser brisanten Lage ist ein Staatsbesuch Erdogans in Deutschland völlig unangebracht“, betonte die Bundestagsabgeordnete. Damit steht die Bundesregierung vor einem Dilemma voller Doppelmoral.
Erdogan nennt Hamas „Befreier“
Bundeskanzler Scholz empfängt am kommenden Freitag den türkischen Staatspräsidenten. Geplant ist nach Angaben der Bundesregierung ein Abendessen. Zentrale Themen dürften die Eskalation im Nahen Osten und die Zukunft des EU-Türkei-Abkommens zur Rücknahme syrischer Flüchtlinge sein.
Doch zuletzt hatte Erdogan Israel wegen des Militäreinsatzes gegen die Hamas im Gazastreifen „Kriegsverbrechen“ vorgeworfen. Er bezeichnete die Hamas, die bei ihrem Großangriff auf Israel am 7. Oktober Gräueltaten vor allem gegen Zivilisten verübt und rund 1200 Menschen getötet hatte, als Gruppe von „Befreiern“.
Erdogan-Besuch offenbart Doppelmoral
Vor allem mit Blick auf Erdogans Vorgehen in Nordsyrien verwundert das Vorgehen der Bundesregierung viele. So auch Michael Wilk, der als deutscher Notfallmediziner in Syrien tätig ist, wie er der „ARD“ sagte: „In Europa herrscht eine Doppelmoral, wenn man einerseits Erdogan hofiert und ihm die Hand reicht, obwohl er Menschen attackiert, terrorisiert und Tausende in die Flucht treibt“.
Europa handlungsunfähig
Für den österreichischen Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger ist Europa in dieser Situation handlungsunfähig, sagte er der „ARD“. Denn ob beim Flüchtlingspakt, den Nato-Verhandlungen oder als Vermittler im russischen Krieg gegen die Ukraine – der Westen sei mehr denn je auf die Türkei angewiesen. Genau diese Position gebe Erdogan den Spielraum für seine Politik in Nordsyrien. Von Kritik aus dem Westen ist diesbezüglich kaum etwas zu spüren.
Einzig die dort stationierten US-Truppen würden eine türkische Bodenoffensive unwahrscheinlich machen. Doch die fehlende Kritik würden aber auch die Kurden vor Ort zu spüren bekommen: „Die Kurden in der Region wissen sehr gut, dass sie sich auf ihre Bündnispartner nicht verlassen können“, so Schmidinger.
„Den Zeigefinger wieder einfahren“
Micky Beisenherz, TV-Autor und Moderator, sieht das Treffen der Bundesregierung mit dem türkischen Präsidenten eher als „realpolitischen Zwang“. Zusammen mit seiner Partnerin Nikki Hassan-Nia spricht er im gemeinsamen Podcast „Apokalypse und Filterkaffee“ auch über die Doppelmoral der Bundesregierung. „Da kann man den Zeigefinger wieder einziehen“, sagen die beiden Podcaster. „Spätestens in dem Moment, wo der Zeigefinger wieder so eine Art hohle Hand wird, nach dem Motto ‚Gib uns bitte’“, so Beisenherz.
Beisenherz zufolge, solle Außenministerin Annalena Baerbock dann besser nicht von einer moralisch geleiteten Außenpolitik sprechen sollte – denn das sei unglaubwürdig.
Die Auswirkungen von Erdogans Handeln sind bereits jetzt ersichtlich. Inwieweit Bundeskanzler Scholz das Vorgehen Erdogans in Syrien bei dem Treffen kritisieren wird, bleibt abzuwarten.