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Nach Aiwanger-Skandal: Sind Hitler-Witze in Schulklassen normal und harmlos?

Beim bayerischen Vize-Ministerpräsidenten wurde ein antisemitisches Flugblatt gefunden. Jugendlicher Blödsinn oder rechtes Gedankengut?

Beim bayerischen Vize-Ministerpräsidenten wurde ein antisemitisches Flugblatt gefunden. Jugendlicher Blödsinn oder rechtes Gedankengut?
u00a9 IMAGO/Sven Simon

Söder hält an Aiwanger fest - trotz Flugblatt-Affäre

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hält trotz der Affäre um ein antisemitisches Flugblatt an Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) fest. Er sei nach einer "Gesamtabwägung" zu diesem Entschluss gekommen, sagte Söder in München. Aiwanger habe ihm am Vorabend in einem langen Gespräch versichert, das Flugblatt nicht verfasst zu haben. Er habe sich zudem entschuldigt und Reue gezeigt.

„Der Schaden für Bayern und für Deutschland ist immens“, sagt SPD-Chefin Saskia Esken am Montag (04. September) auf einer Pressekonferenz in Hinblick auf die Flugblatt-Affäre aus der Schulzeit von Hubert Aiwanger (Freie Wähler).

Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hält trotz dessen an seinem Vize fest. „Diese Entscheidung ist sehr offensichtlich wahlkampfstrategisch getragen und sie ist ein fatales Signal. Sie ist Wasser auf die Mühlen aller derjenigen, die die NS-Zeit, die den Antisemitismus, die Rassismus verharmlosen“, so Esken weiter.

Aiwanger erhält Zuspruch im Netz

Im Zusammenhang mit der Causa Aiwanger schreiben viele User in den Sozialen Netzwerken Kommentare wie: „Sorry aber haben nicht fast alle mal solche dummen Dinge getan?“ und weiter: „Ich könnte niemanden aus meiner ehemaligen Schule nennen, der früher nicht mal Hitler verarschend nachgemacht hat oder ähnliches. Keiner von denen (oder nur sehr wenige) ist heute ‚rechtsradikal'“.

Ulrich Baumgärtner bringt viel Erfahrung im Umgang mit Jugendlichen und dem Unterricht der NS-Vergangenheit mit. Bis 2022 war er Lehrkraft und Seminarlehrer am Münchner Karlsgymnasium. Heute ist er als außerplanmäßiger Professor für Geschichtsdidaktik am Historischen Seminar der LMU München tätig.

Es lasse sich nicht pauschal beantworten, ob diese Art von Witzen unter rechtextremes Gedankengut oder eher unter die Kategorie jugendlicher Blödsinn falle. Der Experte: „Es kommt auf den ‚Witz‘ selbst, aber auch auf den Kontext und das Publikum an.“ Für Baumgärtner steht fest: „Der Massenmord an Juden ist als Gegenstand grundsätzlich nicht geeignet.“ Aber: „Dies ist Jugendlichen möglicherweise nicht bewusst, so dass es sich dabei nicht zwingend um Rechtsextremismus handeln muss.“

„Hitler-Parodien haben lange Tradition“

Ein anderer User schreibt: „Jetzt werden schon Mitschüler von Aiwanger interviewt, die sagen, dass Aiwanger früher in der Klasse Hitler imitiert hätte. Wenn es danach geht, war unsere Klasse früher der reinste NSDAP-Parteitag“.

Warum finden manche Menschen es lustig, Hitler-Grüße zu zeigen, dessen Bart nachzuahmen oder dessen Stimme zu imitieren? „Hitler-Parodien haben eine lange Tradition: von Charlie Chaplins ‚Diktator‘ bis zu Timur Vermes‘ ‚Er ist wieder da'“, erklärt Baumgärtner dieser Redaktion.

Und: „Sich über Hitler lustig zu machen, war zurzeit des Nationalsozialismus (lebens)gefährlich und kann auch heute auf eine deutliche Distanzierung hindeuten.“ Das müsse im Detail betrachtet werden. Auch könne das „vermeintlich lustige Brechen eines Tabus“ als befreiend empfunden werden. Der Uni-Professor sagt aber auch: „Möglicherweise sind entsprechende Bemerkungen und Gesten nicht nur als Tabubruch, sondern auch als indirekte und unbewusste Ablehnung der Erinnerungskultur zu verstehen.“

Wichtig: Hitler-Parodien seien etwas anderes als Witze über den Holocaust. „Während diese grundsätzlich nicht akzeptabel sind, kann die Motivlage in jenem Fall eine andere sein.“ Auch für den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, sind Witze über den Holocaust „immer ein Unding, egal in welchem Alter“. Diese trügen dazu bei, den Holocaust und die NS- Verbrechen zu relativieren. Deshalb sei es wichtig, dass Menschen schon früh moralische Werte verinnerlichen.

Aiwanger: „Keine Toleranz“

In der Schule könne auf Verfehlungen pädagogisch reagiert werden. Allerdings gebe es auch strafrechtliche Fälle, in denen die „Grenzen der Pädagogik erreicht“ seien, weiß Baumgärtner. Klein spricht sich für eine „allgemeine, bundesweite Meldepflicht für judenfeindliche Vorfälle an Schulen“ aus. Auch der Umgang mit Antisemitismus und Rassismus müsse zum verpflichtenden, prüfungsrelevanten Bestandteil der Lehramtsausbildung werden.

„Die Schwierigkeit besteht darin, einen offenen Umgang mit allen Fragen, die den Nationalsozialismus betreffen, zu pflegen und gleichzeitig zu signalisieren, dass es bei der Leugnung beziehungsweise Verharmlosung des Holocaust oder gar bei der Verhöhnung der Opfer keine Toleranz gibt“, betont der pensionierte Lehrer. So könne eine von Schülern mitgestaltete Erinnerungskultur viel erreichen.


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Auch deshalb besuchen viele Schulklassen Gedenkstätten, die an den Holocaust erinnern. Wie verhalten sich Schüler vor Ort? Die KZ-Gedenkstätte Dachau betont auf Anfrage: „Im Rahmen von gebuchten Angeboten (z.B. Rundgänge für Schulklassen, Workshops) gehen Jugendliche üblicherweise sehr respektvoll mit dem Ort um.“