Als 1993 in Berlin die erste Tafel in Deutschland ins Leben gerufen wurde, wollte sie Nothilfe für Obdachlose sein. Heute sind Tafeln bundesweit zu Organisationen mit örtlichem Gebietsschutz gewachsen. Ein Fall am Niederrhein zeugt vom Konkurrenzkampf. Kritiker fordern: „20 Jahre Tafel sind genug!“
Voerde/Dinslaken/Wesel.
Das kalte Wetter derzeit ist für Karlheinz Eichers ideal. Der Balkon seiner Dreizimmer-Wohnung in Voerde-Friedrichsfeld ist seit bald vier Wochen Lebensmittellager. Immer öfter klingelt es bei Eichers an der Tür. Denn Eichers Wohnung ist jetzt Anlaufstelle für Bedürftige, an der man sich mit kostenlosen Lebensmitteln versorgen kann. Es ist die erste derartige Einrichtung in Voerde. „Fair-Teiler“ hat Eichers das Projekt genannt, für das sich knapp zwei Dutzend Menschen zum Verein „Bürger helfen Bürger Voerde e.V.“ (BHB) vor Ort zusammengefunden haben. Eigentlich hätte Eichers, der mit seiner sechsköpfigen Familie selbst von Hartz IV lebt, den Verein gerne dem „Tafel“-Verbund angeschlossen. Aber das lehnen die Tafeln im Kreis Wesel ab.
Seit 20 Jahren gibt es Tafeln in Deutschland. Die erste wurde am 22. Februar 1993 in Berlin eröffnet. Die Idee: „Einwandfreie aber den Gesetzen der Marktlogik nach unverkäufliche Lebensmittel werden von Freiwilligen eingesammelt und an bedürftige Menschen verteilt“, heißt es beim Bundesverband deutsche Tafel. Die Berliner Tafel hatte damals Wohnungslose im Blick. Heute gibt es bundesweit 906 Tafeln. Insgesamt engagieren sich dort mehr als 50.000 Menschen ehrenamtlich. Es gibt sogar Kinder- und Tier-Tafeln.
Tafeln sind wie Wirtschaftsbetriebe geworden
Tafeln haben sich zu einer Organisation entwickelt, die sich von Wirtschaftsunternehmen kaum mehr unterscheidet; notgedrungen, sagen Macher wie Horst Maiß, Vorsitzender der Tafel in Wesel. Um eine Tafel zu organisieren, „braucht man kaufmännische Kenntnisse und Fähigkeiten“, vom Umgang mit dem Finanzamt bis hin zur Personalplanung. Und nicht nur das, sagt Maiß. Die Weseler Tafel gibt es seit fast 15 Jahren, sie versorgt zurzeit 380 Familien mit 750 Angehörigen und verteilt pro Woche etwa 2,3 Tonnen Lebensmittel. Die müssen geworben, organisiert, ausgesucht, abgeholt, gelagert und verteilt werden. „Ein großer Aufwand“ – für eine gute Sache, wie Maiß überzeugt ist.
Die Vereinsgründung in Voerde Ende vergangenen Jahres empfand Maiß „als Konkurrenz“, obwohl auch der BHB etwas gegen den „Irrsinn Vernichtung“, wie es auf dessen Vereinswebsite heißt, unternehmen und Bedürftigen helfen will. „Dadurch fallen für uns Geschäfte weg“, beklagt jedoch Maiß. Ohnehin sei es immer schwerer, Lebensmittelspenden zu bekommen. Zusammen mit Heinz Fischer, Vorsitzender der Dinslakener Tafel, sprachen sie sich deshalb gegen die Gründung einer Voerder Tafel aus, die Karlheinz Eichers zuvor beim Bundesverband Deutsche Tafel in Berlin beantragt hatte. Als Antwort teilte man ihm nach Rücksprache vor Ort mit: „Eine Lücke in der Versorgung von Hilfesuchenden durch die Tafel ist in Voerde nicht erkennbar“. Karlheinz Eichers ist anderer Ansicht.
Scham? Mangelnde Erreichbarkeit? Tafeln erreichen Millionen Bedürftige nicht
Von den 1900 in Dinslaken versorgten Personen kämen nur wenige aus Voerde, sagt Eichers. Für viele sei der Weg zu weit oder zu anstrengend. Alleine in Voerde schätzt der 50-Jährige, gebe es 3000 Bedarfsfälle und fast 1500 Bedarfsgemeinschaften, die sich über einen leichteren Zugang zu kostenlosen Lebensmitteln freuen würden. Daran wird ein zentrales Problem der Tafeln deutlich: Viele, die bedürftig sind, „kommen nicht zu uns“, sagt Heinz Fischer von der Dinslakener Tafel. Auch der Bundesverband merkt an: „Die Tafeln versorgen bundesweit 1,5 Millionen Menschen – tatsächlich sind aber zwölf Millionen von Armut betroffen“. Welche Gründe hat das?
Stichwort Erreichbarkeit: In vielen Regionen gibt es zwar den Bedarf, aber keine Tafeln: „Tafeln gibt es nicht dort, wo die Not am größten ist, sondern wo Menschen Zeit haben, sie zu gründen“, sagt Stefan Selke. Der Soziologe leitet das Lehrgebiet „Gesellschaftlicher Wandel“ an der Hochschule Furtwangen, ist Mitbegründer des „Kritischen Aktionsbündnisses 20 Jahre Tafeln“ sowie der „Forschungsgruppe Tafeln“. Selke hat selbst in einer Tafel mitgearbeitet und beschäftigt sich seit mehreren Jahren wissenschaftlich mit dem Thema. Länder wie Bayern und Baden-Württemberg, mit niedrigen Arbeitslosenquoten, haben die größte Tafel-Dichte. Dem gegenüber finden sich in Mecklenburg oder Sachsen-Anhalt mit über 11 Prozent Arbeitslosenquote die weitaus wenigsten Tafeln.
Konzept „Bürgerladen“ als menschwürdige Alternative zur Tafel-Verteilstelle
Stichwort Scham: Schon kurz nach Gründung der ersten Tafeln hatten Kritiker sie als „Almosensystem“ verurteilt, das Arme zu Bittstellern mache, alleine schon durch die Organisationsabläufe. Bei der Weseler Tafel zum Beispiel gibt es feste Abhol-Zeiten, nach Nachnamen geordnet. Montags sind die Buchstaben A bis C an der Reihe, Dienstags D bis J und so weiter. „Man kann sich aus dem bedienen, was da ist“ – aber nur einmal in der Woche, erklärt Tafel-Vorsitzender Horst Maiß. Öffnungszeiten Montags bis Freitags, 14.30 Uhr bis 16 Uhr. „Mehr geht nicht“. Andere Tafeln würden auch fertig vorsortierte Lebensmittelpakete verteilen. „Dadurch fühlt man sich als Kunde bevormundet“, sagt Heinz Fischer von der Dinslakener Tafel. Manchmal aber sei die Verteilung leider nicht anders zu organisieren.
Karlheinz Eichers hat ein anderes Konzept vor Augen, für „mehr Respekt und Wertschätzung der Menschen“. Er plant ein eigenes Ladenlokal für Bedürftige. Dieser „Bürgerladen“ soll von morgens bis abends geöffnet sein, wie herkömmliche Geschäfte. Kunden könnten zudem mehrmals in der Woche kommen. Damit sie sich nicht zu Bittstellern degradiert fühlen, sollen sie für ihre Einkäufe zahlen – „einen freiwilligen Obolus“, sagt Eichers. Das ist bei den Tafeln in Dinslaken und Wesel schon Praxis: zwei Euro verlangen sie je Besuch, wie es der Bundesverband der Tafeln vorgibt. In Dinslaken aber verteilt man die Waren nur nach Termin. Wer dann fehlt und sich nicht abgemeldet hat, hat eine Woche Hausverbot, erklärt Vorstand Heinz Fischer. Das habe allein praktische Gründe: „Sonst müssten wir wegwerfen, was übrig bleibt. So können wir es weiterverteilen“.
Tafel-Spender – Helden des Sozialen oder Profiteure von Armut?
Auch Stefan Selke macht bei Tafeln einen Mangel an Menschenwürde aus – aber der ist für ihn keine Frage des Verteil-Konzepts. Selke sieht in Tafeln „einen liebgewonnen Pannendienst der Gesellschaft: Armut wird als Armut gesehen, die bei Tafeln gut aufgehoben ist.“ Sie mögen für sich Gutes tun, letztlich aber tun sie „das Richtige im Falschen“, meint Selke: Weil sie „weder das Überschuss- noch das Armutsproblem ursächlich lösen“. Im Gegenteil. „Der Ausbau und die Verstetigung der Tafeln“ habe eine neue „Armutsökonomie“ geschaffen, „die aus Armut eine Ware macht“, kritisiert der Tafel-Forscher.
Somit würden Tafeln letztlich für den Erhalt von Armut sorgen, sagt Selke. Und das System der Tafeln hat in 20 Jahren gesellschaftlich bizarre Ausmaße angenommen: Unternehmen (wie etwa der Rewe-Konzern, der in großem Stil Tafeln unterstützt) erkauften sich über ihr ausgestelltes soziales Engagement Wertschätzung und Imagegewinn. Wenn solche Unternehmen dann in den Medien dafür gefeiert werden, dass sie „ihrer gesellschaftlichen Verantwortung durch Unterstützung der Tafeln“ gerecht würden, ist das für Selke ein reichlich schiefes Bild: „Was damit verschwiegen wird, ist die Tatsache, dass die Unternehmen an anderen kostspieligen Stellen sich gerade vor dieser Verantwortung drücken“ – siehe etwa die Debatten über Mindestlohn, Leiharbeit oder Lohndumping.
Tafeln gründen zunehmend Dependancen
Beim Bundesverband der Tafeln sieht man unterdessen die Tendenz, dass sich Tafeln weiter ausweiten. Sprecherin Anke Assig glaubt allerdings nicht, „dass wir in Deutschland die Zahl von 1000 Tafeln erreichen werden“ – zumal der Verband siehe den Streit in Voerde weitere Neugründungen in Ballungsregionen beschränkt. Allerdings deute sich an, „dass sich Tafeln durch Spender und Sponsoren in der Flächen ausweiten werden“, also Dependancen gründen. Der Bedarf jedenfalls „ist weiterhin da“.
Aus Sicht von Stefan Selke wäre es statt dessen wünschenswert, dass sich die Tafeln selbst abschafften – was auch Menschen wie Heinz Fischer von der Dinslakener Tafel als Wunsch vorgeben: „Mir wäre lieber, es gäbe uns nicht mehr. Aber das halte ich für eine Utopie“. So setzt sich Fischer weiterhin dafür ein, dass die Tafel Dinslaken noch viele Jahre existieren kann und hofft auch auf viele Geldspenden: „Wir brauchen 25.000 Euro im Jahr, um den Betrieb tragen zu können“, sagt Fischer. Etwa 15.000 Euro würden über die Zwei-Euro-Obolus der Tafel-Kunden erwirtschaftet. In Wesel denkt der Tafel-Vorsitzende Horst Maiß bereits jetzt daran, dass man in zwei Jahren einen neuen Kühlwagen brauchen wird. 40.000 Euro an Spenden werde der Verein dafür noch sammeln müssen.
Tafeln sind „ein Teil der Politik“ geworden
Für Tafel-Kritiker Stefan Selke zeigt sich daran, dass die Tafeln sich als „irreversibles System“ weiter etablieren werden. Mit negativen Folgen für die Gesellschaft. Weil Tafeln nicht „die Logik des Systems Politik“ hinterfragten, weil sich bei ihnen kein „Protestpotential“ finde, seien sie ein „Teil der Politik“ geworden. Veränderung? Fehlanzeige!
Selkes Ideal sieht anders aus: „Ich trete für eine armutsvermeidende, existenzsichernde und bedarfsgerechte Mindestsicherung ein“. Dazu aber brauche es auch von unten Druck, damit sich Politik und Gesellschaft „mit den vielen inspirierenden Modellen alternativer Ökonomie“ befassen – etwa das „bedingungslose Grundeinkommen“. Tafeln, sagt Selke, „können nur eine Notlösung sein“.