Veröffentlicht inPanorama

Wie geistig Behinderte ihre Sexualität leben

Wie geistig Behinderte ihre Sexualität leben

29021580--543x199.jpg
Foto: WP

Berlin. 

Sex mit Behinderung ist ein Tabu-Thema. Dabei haben auch geistig Behinderte sexuelle Wünsche. Psychologen setzen oft auf Sexualassistenz. Eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse ist aber gesetzlich ausgeschlossen.

Sex und Behinderung ist ein Tabu-Thema in Deutschland. Doch auch geistig und körperlich behinderte Menschen haben das Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Sex. Während körperlich Behinderte ganz klar ausdrücken können, was sie möchten, müssen bei geistig Behinderten meist Pfleger oder Eltern die Wünsche interpretieren. Wie schwierig dies sein kann, weiß Christiane Wittig: Die Psychologin arbeitet seit 30 Jahren im Stephanus-Stift in Berlin, einer diakonischen Einrichtung für Menschen mit Behinderung.

„Für mich war immer klar, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung auch eine Sexualität haben und diese auch leben wollen“, berichtet Wittig. Die körperliche Entwicklung verlaufe ganz normal, mit der Pubertät kämen dann auch sexuelle Bedürfnisse, die die Betroffenen allerdings nur schwer vermitteln könnten.

Wenn die Wünsche klar sind, kontaktieren Wittig und ihr Team spezialisierte Prostituierte, man spricht in diesem Fall von Sexualassistenz. Die Finanzierung obliegt jedoch im Gegensatz zu vielen anderen therapeutischen oder behinderungsspezifischen Hilfen den Betroffenen, da eine Kostenübernahme etwa durch das Sozialamt bisher nur in seltenen Einzelfällen erfolgt. „Sex auf Krankenschein“, eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse, ist in Deutschland anders als etwa in den Niederlanden gesetzlich ausgeschlossen.

„Sex auf Krankenschein“

In der Diskussion darüber ist die Psychologin Wittig grundsätzlich für die Kostenübernahme, gibt aber zu bedenken, dass nicht jeder Behinderte etwas mit „Sex auf Krankenschein“ anfangen könnte: Für diejenigen, die nicht genau wissen, was sie wollen, wäre der Gang zur Prostituierten nicht hilfreich. In diesen Fällen wäre eine Sexualbegleitung im Sinne einer Sexualtherapie angebrachter, um zunächst mehr über die Wünsche zu erfahren.

Langjährige Erfahrung damit hat der Psychotherapeut Lothar Sandfort. Sandfort ist querschnittsgelähmt und sitzt im Rollstuhl, seit mehreren Jahren arbeitet er als Sexualtherapeut. Er berichtet, dass sich oft herausstelle, dass die Behinderten lieber nur Streicheleinheiten haben wollten und keinen Sex.

Sitzungen mit Ersatzpartnern

Sandfort arbeitet während seinen Sitzungen mit Ersatzpartnern, speziell tätigen Prostituierten, die Erfahrung haben im Umgang mit Behinderten und auch seelische und emotionale Zuwendung spenden sollen. Die Behinderten sollen dabei vor allem lernen, Beziehungen aufzubauen.

„Wir veranstalten oft Veranstaltungen, bei denen alle eingeladen sind: Sexualbegleiter, Behinderte, ihre Eltern und wir Sexualtherapeuthen. Das ganze beginnt meist formlos mit einer kleinen Einführung über allgemeine Probleme und Vorstellung aller Beteiligten“, erklärt Sandfort. Danach bildeten sich meist kleinere Gruppen. „Oft sind die Behinderten neugierig und gehen auf eine der Sexualbegleiterinnen zu, dann treten wir Sexualtherapeuthen sozusagen als Vermittler auf.“

Vermittelt wird innerhalb der Sitzungen vor allem zwischen Behindertem und Sexualbegleiterin, wobei nach und nach die Präsenz der Sexualtherapeuten verschwindet und der Behinderte dann im Normalfall alleine mit der Sexualbegleiterin ist. „Oft wird aber auch zwischen dem Behinderten und seinen Eltern vermittelt, da viele der Eltern verunsichert sind.“

Therapeut für Finanzierung

Um die Kostenerstattung müsse häufig mit der Krankenkasse gerungen werden, erklärt der Psychotherapeut. Doch sowohl die Sexualbegleitung als auch die Sexualassistenz müssten öffentlich finanziert werden, fordert Sandfort. Die Sexualassistenz von Prostituierten könne indirekt über das Persönliche Budget abgerechnet werden, aus dem Behinderte ihre Aufwendungen selbstbestimmt bezahlen können, die zur Deckung ihres persönlichen Hilfebedarfs erforderlich sind, schlägt er vor.

Schließlich handele es sich, wie auch bei der eher therapeutischen Sexualbegleitung, um eine Art Eingliederungshilfe, damit der Betroffene in Zukunft selbstständiger ist: „Derjenige wird befähigt, ermächtigt, sich selbst eine Beziehung aufzubauen, und dabei helfen wir. Und dabei wird er letztendlich selbstständiger, integrierter, gesünder“, argumentiert der Therapeut. (apn)