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„Das Halstuch“ war die Mutter aller Straßenfeger

„Das Halstuch“ war die Mutter aller Straßenfeger

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Foto: Cinetext/Charlotte Fischer
Frauen werden mit einem Schal erdrosselt, es gibt viele Verdächtige und noch mehr falsche Spuren: Vor 50 Jahren lief die erste Folge des Fernseh-Sechsteilers „Das Halstuch“. Zuschauer fanden die Mörderjagd so spannend, dass sie selbst nötigste Bedürfnisse bis zum Abspann ignorierten.

Essen. 

Jahreshauptversammlungen? Verschoben. Theatervorstellungen? Abgesagt. Kinos? Gar nicht erst aufgemacht. Kommt doch eh keiner in diesen ersten Januartagen des Jahres 1962. Zu Hause sitzen sie in Deutschland und gucken Fernsehen. Und wer kein Gerät besitzt, der geht zu Nachbarn oder Freunden. Um zuzusehen, wie Inspektor Harry Yates einen Serienmörder jagt. Heute vor 50 Jahren läuft die erste Folge von Durbridges „Das Halstuch“ und gibt dem Wort „Straßenfeger“ eine ganz neue Bedeutung.

Aus heutiger Sicht ist das schwer nachvollziehbar, auch wenn mit Heinz Drache, Margot Trooger, Eva Pflug, Helmut Lange, Horst Tappert und Dieter Borsche mitspielt, was Rang und Namen hat. Denn eigentlich ist der Sechsteiler aus der Feder des britischen Erfolgsautors ein eher konventionelles Stück Krimiliteratur – sieht man mal davon ab, dass die erste Tote unter einem Stapel Zuckerrüben auf einem Anhänger liegt. Frauen werden mit einem Schal erdrosselt, es gibt viele Verdächtige und noch mehr falsche Spuren. Kritiker finden schnell „Schwächen in der Konstruktion“ und „Unbegründetheiten in der Handlung“. Und wieder einmal, bemängeln sie, halte die Geschichte „einer strengen logischen Analyse nicht stand“. Dafür, gibt der Schriftsteller offen zu, sei sie auch nicht geschrieben.

Schimpfende Kneipenbesitzer

Den gemeinen TV-Zuschauer stört das auch gar nicht. Denn er mag Francis Durbridge. Viele kennen seine Paul Temple-Krimis seit Jahren aus dem Radio. Und bereits „Der Andere“ (1959) und „Es ist soweit“ (1960), die beiden Halstuch-Vorgänger im TV, sorgten für verlegte Ratssitzungen und ausgefallene Spätschichten in vielen Werken. Das „Halstuch“ aber setzt noch einen drauf. „Unglaublich spannend“ nennen es Zuschauer in Leserbriefen an TV-Zeitungen und berichten, dass niemand es gewagt habe, auf die Toilette zu gehen oder irgendwo anzurufen. Von Wetten auf den Mörder ist zu lesen und von stundenlangen Diskussionen am Arbeitsplatz. „Der Chef hat schon geschimpft.“

Kneipenbesitzer schimpfen auch. Oder sie kaufen sich einen Fernseher. Sonst bleibt der Laden nämlich leer, wenn eine der sechs Folgen zu je 35 bis 40 Minuten ausgestrahlt wird. Genau wie Volkshochschulen, Sport- und Wahlveranstaltungen. „Das deutsche Kulturleben ist zum Erliegen gebracht worden“, gibt selbst der Programmbeirat des Fernsehens zu. Und das Marktforschungsinstitut Infratest kann das durch Zahlen belegen, indem es jeweils am Tag nach der Sendung bei Besitzern von TV-Geräten anruft und hochrechnet, dass im Schnitt 90 Prozent der knapp sechs Millionen Fernseher in Deutschland eingeschaltet waren.

Für den Berliner Kabarettisten Wolfgang Neuss eindeutig zu viel. Um Werbung für seinen Kinofilm „Genosse Münchhausen“ zu machen, schaltet er zwei Tage vor dem „Halstuch-Finale“ für 945 Mark eine große Anzeige in der Zeitung, in der er den Namen des Täters verrät. „Ratschlag für Mittwochabend: Nicht zu Hause bleiben, denn was soll’s, der Halstuchmörder ist Dieter Borsche. Also Mittwochabend ins Kino!“

Verrat vor dem Finale

„Vaterlandsverräter“ nennt ihn der Boulevard deshalb, und wütende Zuschauer schicken Neuss Morddrohungen ins Haus. Er habe doch nur „geraten“, wiegelt der Berliner ab. Was nicht wahr ist, wie der SWR Jahre später herausfindet. Angeblich, so der Radiosender, hatte Neuss den Namen von seiner Mutter. Denn Frau Mama hatte zufällig dieselbe Fußpflegerin wie Dieter Borsches Mutter. Und alle waren offenbar ein wenig geschwätzig.

Genutzt hat es Neuss nichts. Trotz seines „Verrats“ schalteten bei der letzten Folge 93 Prozent der TV-Zuschauer ein. „Genosse Münchhausen“ lief dagegen vor leeren Rängen.