Zählt in Deutschland nur noch das Abitur? Greift ein übler „Akademisierungswahn“ um sich? Bildungsexperten und Vertreter des Handwerks teilen die kritische Sicht des früheren Kulturstaatsministers Julian Nida-Rümelin (SPD). Sie sagen: Wir brauchen auch gute Facharbeiter, Techniker und Meister. Doch es gibt auch Gegenstimmen.
Essen.
Es gibt zu viele Studenten in Deutschland und zu wenige Azubis. Das behaupten Bildungsexperten und Vertreter des Handwerks. Sie teilen die Kritik von Ex-Kulturstaatsministers Julian Nida-Rümelin. Der SPD-Politiker hatte gefordert, den „Akademisierungswahn“ zu stoppen. Es sei nicht gut, dass fast 60 Prozent eines Jahrgangs die Hochschulzugangsberechtigung haben.
„Prof. Nida-Rümelin hat Recht. Es wird eine verantwortungslose Akademikerpolitik betrieben“, sagt Prof. Gerhard Bosch, Direktor des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Uni Duisburg-Essen. Die Politik vernachlässige das bewährte Berufsbildungssystem und gefährde damit die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands.
Moderne Betriebe brauchen nicht nur Führungskräfte
„Moderne Produktionsbetriebe funktionieren nicht nur mit Führungskräften“, so Bosch. Eine Exportnation benötige auch gut ausgebildete Facharbeiter, Techniker und Meister. Doch die Politik schrecke davor zurück, den Hochschulzugang zu beschränken, „das ist nicht populär“.
Markus Kiss, Ausbildungs-Experte beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK), sagt: „Es ist schon fast absurd: Alle Welt interessiert sich für unser erfolgreiches duales Ausbildungssystem, doch im eigenen Land gilt der Prophet immer weniger. Die Hörsäle platzen aus allen Nähten, während Betriebe händeringend Bewerber für Ausbildungsplätze suchen.“
Andere Nationen haben Akademisierungsquoten von über 80 Prozent
Auch der Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Holger Schwannecke, stellt sich an Nida-Rümelins Seite: „Ich halte gar nichts davon, möglichst alle zum Abi und in die Hochschulen zu treiben.“ Deutschland brauche gute Akademiker und gute Facharbeiter.
Aber es gibt gewichtige Gegenstimmen. Der Chef des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE), Jörg Dräger, betont, dass andere Industrienationen Akademisierungsquoten von über 80 Prozent haben: „Der Arbeitsmarkt regelt die Nachfrage. Die Akademiker-Arbeitslosigkeit liegt in Deutschland bei drei Prozent. Da ist es logisch, dass viele Schulabgänger die akademische Karriere bevorzugen.“
Ähnlich sieht es Prof. Ulrich Radtke, Rektor der Uni Duisburg-Essen. Die Ansprüche in der Wissensgesellschaft würden höher. Doch müsse nicht jeder an einer Universität studieren. „Die Fachhochschulen bieten mit Dualen Studiengängen eine gute Verzahnung zur Praxis. Das hat Zukunft.“
2,5 Menschen in Deutschland studieren – ist das zu viel?
2,5 Millionen Menschen studieren, die Hörsäle platzen bundesweit aus allen Nähten. Doppelte Abiturjahrgänge und der Wegfall der Wehrpflicht bescherten den Hochschulen Rekordanmeldezahlen. Allein in NRW werden zum kommenden Wintersemester mehr als 120 000 neue Studierende erwartet. Ist das zu viel? Kann der Arbeitsmarkt so viele Studierte überhaupt verkraften? Müssen wir von einer Akademikerschwemme warnen?
Das alles sei Unsinn, meint Dieter Dohmen, Direktor des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie in Berlin. „Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Anforderungen des Arbeitsmarktes immer höher werden. Wir sind beim Grad der Akademisierung international noch bei weitem nicht Spitze“, so Dohmen.
UDE-Rektor Radtke sieht bei Akademisierung noch Luft nach oben
Hochschulabsolventen seien von Arbeitgebern gefragt. Die Aussage von Julian Nida-Rümelin, wonach bald mehr junge Menschen ein Studium aufnehmen als eine Berufsausbildung, stimme nur in diesem Jahr, nächstes Jahr aber schon nicht mehr. „Er hat offenbar die Statistik nicht richtig gelesen“, sagt Dohmen.
Das duale Berufsausbildungssystem müsse durch den Zug zur Hochschule nicht geschwächt werden, zumal die Erstsemesterzahlen bald wieder sinken werden. Doch die unzureichende Qualifizierung vieler Bewerber sei für viele Betriebe ein Problem. Hier seien noch Potenziale zu heben, meint Dohmen.
Auch Ulrich Radtke, Rektor der Uni-Duisburg-Essen, sieht bei der Akademisierung noch Luft nach oben: „Wir haben noch lange nicht alle Bildungsreserven gehoben“, so Radtke. „Jetzt zu sagen, wir stoppen die Aufnahme an den Unis, wäre das falsche Signal.“ Radtke plädiert indes für einen weiteren Ausbau der Fachhochschulen, die ein praxisnäheres Studium als die Forschungsunis anbieten.
Jeder Vierte bricht sein Studium ab
CHE-Chef Jörg Dräger möchte nicht Studenten und Azubis gegeneinander ausspielen: „Wir müssen den Kern des Dualen Systems erhalten, aber die Ausbildung insgesamt weiter entwickeln. Klassische Berufsausbildung und Studium lassen sich heute immer besser kombinieren, und diesen Weg müssen wir weiter gehen.“
Markus Kiss vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag: Inzwischen gibt es mit rund 500.000 jungen Menschen fast genauso viele Studien- wie Ausbildungsanfänger. Dabei ist nicht jeder mit einem Studium wirklich gut beraten, das zeigen auch die Abbrecherquoten: Rund 25 Prozent der Studienanfänger – in den Ingenieurwissenschaften sogar fast 50 Prozent – hören vorzeitig auf. Der deutschen Wirtschaft gehen zugleich die praktisch ausgebildeten Fachkräfte aus.
Bis Ende dieses Jahrzehnts werden bis zu 1,4 Millionen Facharbeiter in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik fehlen – aber nur 150 000 Mint-Akademiker. Was tun? Zum einen muss der Trend zur Um-jeden-Preis-Akademisierung gestoppt werden. Zum anderen wollen wir Studienabbrechern den Umstieg in eine duale Ausbildung erleichtern. Am Ende gilt: Deutschlands Unternehmen brauchen hervorragende Absolventen der beruflichen Bildung ebenso wie wissenschaftlich geschulte Fachkräfte. Berufliche Karriere ist nicht nur durch ein Studium möglich!“