Strickpulli statt Sakko. Vor 30 Jahren kamen die Grünen als Öko- und Friedenspartei ins Parlament und schreckten die traditionellen Parteien der Bonner Republik auf. Mittlerweile sind sie selbst etabliert und ein Stück weniger bunt. Eine Abstimmung drohte die Fraktion gar zu zerreißen.
Berlin.
Zäsur im Bundestag: Männer mit Mähne, Rauschebart und Strickpulli ziehen ein. Die Frauen tragen Latzhosen und Sonnenblumen. Und ein hilfloser Helmut Kohl bekommt erst einmal einen Fichtenzweig geschenkt. Damit er ja nicht das Waldsterben vergisst.
Beflügelt vom Kampf gegen die Frankfurter Startbahn West, die Nato-Nachrüstung und den siechenden Baumbestand sind die Grünen am Ziel: Heute vor 30 Jahren haben die Deutschen die Öko- und Friedensaktivisten erstmals in den Bundestag gewählt – und damit die betuliche Bonner Drei-Parteien-Republik ins Haus der Geschichte katapultiert.
„Wir dachten, wir könnten den Bundestag im Handumdrehen auf den Kopf stellen“, sagt Fraktions-Urgestein Marieluise Beck, die noch heute im Parlament sitzt. Kriege stoppen, Atomkraft beenden, Welt retten – kein Ziel ist den Etabliertenschrecks, die der CSU-Allmächtige Franz Josef Strauß als „Karnevalsverein“ verspottet, zu hoch. Ans Regieren habe man nicht im Traum gedacht, sagt Beck. Viel lieber wollen die „Ökopaxe“ die Anti-Parteien-Partei bleiben.
Verspottet von den Anzugträgern mischt die Exotentruppe um den einstigen RAF-Anwalt Otto Schily, Ex-Panzergeneral Gerd Bastian und Friedensengel Petra Kelly rasch den Politikbetrieb auf. Frieden, Atomkraft-Aus und Gleichberechtigung kommen nun ebenso auf die Agenda wie der Sexismus im Parlament und Einlassungen zu den männlichen „Einheitsübungen im Bett“. Ex-Steinewerfer Joschka Fischer kanzelt den Bundestag als „Alkoholiker-Versammlung“ ab, beschimpft Bundestags-Vize Richard Stücklen von der CSU als „Arschloch“ und schreibt so Parlamentsgeschichte.
„Otto kneif’ mich“
Neben dem Einsatz gegen verbleites Benzin und sauren Regen toben erbitterte Machtkämpfe zwischen Fundis und Realos, die langsam die Oberhand gewinnen. Während die Deutschen die Einheit herbeisehnen, versemmeln die West-Grünen den 90er-Wahlkampf mit einem legendären Slogan: „Alle reden von Deutschland – wir reden vom Wetter.“ Die Wähler verbannen die Ökos aus dem Bundestag. Nur das ostdeutsche Bündnis 90 darf Abgeordnete nach Bonn schicken. „Der Rauswurf hatte etwas Kathartisches“, meint Beck. In der Folge verlassen radikale Vertreter wie Jutta Ditfurth die Ökopartei. „Andernfalls wäre es mit den Grünen vorbei gewesen“, meint Beck.
Nach der Fusion mit Bündnis 90 ziehen die Grünen 1994 wieder in Fraktionsstärke in den Bundestag ein. Realpolitisch geläutert, dauert es weitere vier Jahre, ehe die Ökopartei Helmut Kohl aufs politische Altenteil befördert und mit der SPD das rot-grüne Projekt startet. Überwältigt stammelt Vizekanzler Fischer zum Kabinettskollegen Schily, der längst bei der SPD ist: „Otto, kneif mich, ich glaub es nicht.“
Abstimmung über Kosovo-Einsatz drohte die Fraktion zu zerreißen
Die politische Realität holt die einst so pazifistischen Grünen 1999 mit dem Kosovoeinsatz der Bundeswehr ein. „Die Abstimmung war der schwerste Moment für die Fraktion“, sagt Beck über die Zerreißprobe für die Partei. Mit Ach und Krach kratzt Schröder die Mehrheit im Bundestag zusammen. Zwei Jahre später beim Afghanistan-Einsatz knüppelt er den Juniorpartner im Koch-Kellner-Tandem per Vertrauensfrage auf Kanzlerkurs. Dank Oder-Flut, drohendem Irakkrieg und Unions-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber darf Rot-Grün 2002 dennoch in die Verlängerung. Der Abpfiff folgt 2005. Bis dahin haben die Grünen Dosenpfand, Ökosteuer und Atomausstieg erkämpft und die Agenda 2010 mitgetragen.
Von Rauschebartträgern wie dem damaligen Abgeordneten aus Bottrop, Dieter Drabiniok, fehlt heute in der Grünen-Fraktion jede Spur. Hans-Christian Ströbele darf in der Riege der Sakkoträger noch den Altrebellen spielen. Doch insgesamt hat die Grünen ihr Gang durch die Mitte brav, staatstragend, etwas grau und bodenständig gemacht. „Ich bin bescheidener geworden in der Frage, was in welchem Tempo durchsetzbar ist“, resümiert Beck. Der Wählergunst tut das keinen Abbruch. Im Herbst können die Grünen auf ein Rekord-Wahlergebnis hoffen.