So ein richtig ernstes Gesicht macht Hans-Joachim Saßik eigentlich nie. Immer ist da ein ironisches Zucken in den Mundwinkeln unter dem weißen Schnauzbart. Und um die Augen hinter den Brillengläsern erscheinen dann Lachfältchen.
Nur zwei Mal wird er während unseres Gespräches ernst. Keine Lachfältchen mehr – stattdessen eine Zornesfalte auf der Stirn. Eine „bodenlose Ungerechtigkeit“ nennt er das, was ihn so maßlos ärgert.
Ampelmännchen? „Damit verniedlicht man eine Diktatur“
Das erste Mal passiert das, als wir über „Ostalgie“ reden. Über Ampelmännchen-Souvenirs und T-Shirts mit DDR-Wappen.
„Damit verniedlicht man eine Diktatur, in der viele Menschen gelitten haben“, sagt der Ex-DDR-Bürger. Auch er selbst hat gelitten. Immer war da das Gefühl, unfrei zu sein. Und Freiheit ist für Hans-Joachim Saßik das höchste Gut.
17 Jahre alt ist er, als er das erste Mal beschließt, die DDR zu verlassen. Er bringt sein letztes Geld mit Freunden durch, in der Nacht seines 18. Geburtstags. Der ist am 12. August 1961. Als er am nächsten Morgen mit Kopfschmerzen aufwacht, weiß er noch nicht, dass es ein welthistorischer Tag ist. „Doch dann sagten sie es im Radio: Die haben die Mauer gebaut“, erzählt Saßik.
Ständige Bespitzelung
Der Westen ist damit in weite Ferne gerückt.
Immer wieder denkt Saßik in den folgenden Jahren über Flucht nach. Er kann es nicht aushalten in der DDR, wird bespitzelt, kommt im Beruf nicht weiter, weil er seine Meinung sagt.
Fast 30 Jahre vergehen, bis er dann wirklich flieht. Wieder ist es sein Geburtstag, diesmal der 46. Inzwischen ist er verheiratet, hat eine achtjährige Tochter: Antje. Die Familie gibt vor, Urlaub in Ungarn machen zu wollen. Bekannte aus dem Westen bringen sie nachts an die Grenze, ein Einheimischer zeigt den Weg.
Werden sie schießen?
Durch dichtes Brombeergestrüpp kämpfen sie sich in Richtung Österreich. Der kleinen Antje erzählen sie, dass sie Hirsche beobachten wollen.
Dann plötzlich helles Scheinwerferlicht. ‚Das war es jetzt‘, denkt Saßik, ‚jetzt haben sie uns‘. Die Angst packt ihn kalt. Werden sie schießen? Werden sie ihn und seine Frau ins Gefängnis werfen? Was passiert dann mit der Tochter? Minuten vergehen bis zur Erlösung: „Es waren nur die Scheinwerfer einer Lokomotive, wir waren an einem Bahndamm.“
Über Österreich gelangen sie nach Deutschland und schließlich im Münsterland, wo er heute noch mit seiner Frau lebt.
„Die haben uns veräppelt“
„Jetzt bin ich Rentner“, sagt Saßik – und wird zum zweiten Mal richtig ernst. „Die haben uns veräppelt“, sagt er – und meint den Staat.
Saßik gehört zu den fast 300.000 Ex-DDR-Bürgern, die vor dem Mauerfall nach Westdeutschland ausgereist sind. In einem Leitfaden, den er bekommt, steht das Versprechen: „Übersiedler aus der DDR werden in der gesetzlichen Rentenversicherung so behandelt, als ob sie ihr ganzes Arbeitsleben in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegt hätten.“ So regelt es das Fremdrentengesetz.
Doch jetzt bekommt der 75-Jährige deutlich weniger Rente. „Ich kann davon leben“, sagt er und winkt ab. Ums Geld geht es ihm nicht. Es geht ihm ums Prinzip.
Dutzende Briefe hat er geschrieben, an die Rentenversicherung, an Parteien, an die Regierung. „Weil es ungerecht ist, uns nachträglich schlechterzustellen“, sagt er. „Man hat mich gegen meinen Willen wieder zum DDR-Bürger gemacht.“
Denn durch das sogenannte Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) von 1991 wird Saßik bei der Rente genauso behandelt wie alle DDR-Bürger, die nicht vor dem Mauerfall ausgereist sind. Das RÜG wurde 1991 beschlossen, um die Rentenansprüche der neu hinzugekommenen Bundesbürger finanzierbar zu machen. Das Problem: Die Regelung galt plötzlich eben nicht nur für diejenigen, die nach dem Mauerfall dazukamen – sondern auch für die 300.000 Menschen, die schon längst Bundesbürger waren.
„Ich werde bestraft, weil ich geflohen bin“
Pikant: Hätte Saßik in die Freiwillige Zusatzrentenversicherung der DDR eingezahlt, würde er jetzt eine höhere Rente bekommen. Aus Prinzip hat er das aber wie die allermeisten DDR-Bürger nicht getan. Viele Stasi-Leute hingegen schon. „Ich werde bestraft, weil ich geflohen bin. Und manch ein Ex-Spitzel wird belohnt“, sagt Saßik.
Anträge, die Renten doch noch wie versprochen nach dem Fremdrentengesetz zu zahlen, sind seit Jahren erfolglos. Zuletzt hatten die Grünen einen Vorstoß im Bundestag versucht – ohne Erfolg.
Das Bundesarbeitsministerium äußert sich nur vage zum Thema, Gegenüber DER WESTEN sagt ein Sprecher: „Die Rechtmäßigkeit der seit 1992 geltenden rentenrechtlichen Regelungen wurde vom Bundessozialgericht als höchstem deutschen Sozialgericht als verfassungsgemäß angesehen. Vorbehaltlich einer anderslautenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird für eine Änderung dieser Regelungen kein Anlass gesehen“.
„Freiheit ist für mich, selbst über mein Leben bestimmen zu können“
Die SPD, deren Mitglied auch Arbetisministerin Andrea Nahles ist, hatte sich im Bundestag einst für eine Neuregelung der Renten-Regel stark gemacht.
Zuletzt hatten die Grünen in einem Antrag gefordert, Menschen, die die DDR vor dem Mauerfall verlassen hatten, die versprochene Rente zukommen zu lassen. Inzwischen scheint auch dort das Thema nicht mehr allzu weit oben auf der Agenda zu stehen. Mehrfach hat DER WESTEN um ein Statement der Partei zum Thema gebeten. Über Wochen und Monate hab es immer wieder nur neue Vertröstungen – eine Antwort fehlt.
„Die Politik wartet, bis sich das Thema von selbst erledigt hat“, sagt Hans-Joachim Saßik und grinst verschmitzt. „Denn irgendwann sind wir alle tot, dann haben die ihre Ruhe“.
Weiterkämpfen wird er trotzdem. „Ich hab die DDR verlassen, weil ich Freiheit wollte. Das bedeutet für mich, selbst über mein Leben bestimmen zu können und zu entscheiden, was ich machen will.“ Er will für eine Sache kämpfen. Das ist seine Freiheit.