Saillon ist eines der besterhaltenen, mittelalterlichen Dörfer der Schweiz – mit dem kleinsten Weinberg der Welt. Viele Prominente kommen dorthin.
Saillon.
Theres Sigrist skizziert mit ruhiger Hand und feinem Strich den Burgturm, die Umrisse der Stadtmauer, Hausdächer und -wände, teils aus sonnengegerbtem, dunkelbraunem Lärchenholz, teils aus verwittertem Fels: die Silhouette von Saillon, einem der besterhaltenen, mittelalterlichen Dörfer der Schweiz. Es liegt schräg auf einem gut 500 Meter hohen Mini-Felsen vor der Weitwinkel-Panorama-Kulisse des kilometerbreiten Rhonetals mit schneebedecktem Dents du Midi-Gletscher als Fluchtpunkt. Ja, auch diese Perspektive hat Hobbymalerin Theres schon verewigt auf ihren mehr als 30 Saillon-Aquarellen. „Seit 19 Jahren male ich diesen Ort“, sagt sie verschmitzt, „und finde immer noch neue Motive.“
Weltprominenz auf 1,67 Quadratmetern
Das kurioseste liegt außerhalb des Dorfkerns, inmitten grüner Weinfelder, deren Rebreihen Saillon umstellen wie zum Appell angetretene Soldaten-Bataillone. Dazwischen dieser unscheinbare, baumbestandene Hügel mit einem schattigen, in weiße Feldsteine eingefassten Erdflecken, aus dem drei Rebstöcke emporranken – keiner höher als einen Meter: der kleinste Weinberg der Welt. Präzise: 1,67 Quadratmeter winzig, so eingetragen im Kataster. Mit Sondergenehmigung, denn üblicherweise klappen schweizerische Beamte ihr Grundbuch erst ab 200 Quadratmetern auf. Hinter den – nun ja – ein wenig an Brennnesseln erinnernden Wein-Strünken versammelt sich Weltprominenz: der Dalai Lama und James Bond etwa, Gina Lollobrigida, Michael Schumacher, Zinedine Zidane, Caroline von Monaco oder Peter Ustinov. Wie auf einem Empfang stehen sie etwas ungeordnet herum – nicht persönlich, sondern vertreten durch rostige Metallstäbe mit Namensschildern. Blecherne Beweise dafür, dass all diese Mächtigen und Mutigen, Schnellen und Schönen schon hier waren. Nur: Warum bloß?
„Na, um uns bei der aufwendigen Weinlese zu helfen“, sagt Ursi Fäh augenzwinkernd mit Blick auf die mickrigen Traubenbüschel an den drei Rebstöcken. „Und beim Zurückschneiden. Und Durchharken…“ Die 58-jährige Gästeführerin blickt lächelnd in ungläubige Gesichter und hält die Spannung noch ein wenig, bis sie mit der Wahrheit rausrückt. „Ja, jeder Promi hat hier wirklich Hand angelegt – quasi als Blitz-Winzer im Bonsai-Weinberg.“ Symbolische Sekunden-Einsätze an spärlicher Traubenpracht. Der Ertrag: ein paar Deziliter. Sie werden später mit der Ernte umliegender Felder vermischt, zu jährlich 1000 Flaschen Wein verarbeitet und für wohltätige Zwecke verkauft – zugunsten tibetanischer und sudanesischer Kinder etwa. Also mal wieder so ein cleverer Marketing-Gag mit Schnapsidee-Aufmerksamkeits-Erreger à la Guinness-Buch? „Jein“, sagt Ursi Fäh, „denn die ,Erfindung’ des kleinsten Weinbergs der Welt ist zwar eine schräge Geschichte, hat aber eine wahre als Hintergrund.“
Der Reihe nach: Vier Männer hecken die Idee in Paris aus, darunter der französische Chansonnier Gilbert Becaud und Schauspieler Jean-Louis Barrault. Sie nennen sich „Freunde Farinets“, wollen mit dem Weinberg einen Falschmünzer namens Joseph-Samuel Farinet ehren. „Er gilt hier im Unter-Wallis als eine Art Robin Hood, spätestens seit Barrault ihn 1938 im Film so verkörperte“, erklärt Fäh und zeigt den verwegen dreinblickenden Filmhelden im Sailloner Falschgeld-Museum. Mit dem Weinberg sollte Farinet 1980 – exakt 100 Jahre nach seinem Tod – ein Denkmal bekommen, hatte er sich doch etwa ab 1870 in dieser Gegend immer wieder herumgetrieben, zusammen mit Komplizen abertausend täuschend echte 20-Rappen-Münzen geprägt und damit nicht nur bezahlt, sondern sie angeblich auch Armen und Bedürftigen gegeben. Viele Menschen vertrauten ihm bald mehr als der seinerzeit krisengeschüttelten Walliser Kantonalbank.
Dalai Lama zu Besuch
Die Wohltaten des vermeintlichen Gentleman-Gauners zeitgemäß mit Scheckübergaben fortsetzen – dafür lotst Pascal Thurre immer neue, große Namen auf den kleinen Weinberg. Gute Beziehungen? Üppige Gagen? Nähere Umstände mag der 86-jährige Journalist – Mitgründer der inzwischen 22 „Freunde Farinets“ – nicht so recht verraten. Rita Gay, einzige Frau im Freundeskreis, hingegen schon: Lustlos habe Caroline von Monaco ihren Job im Weinberg erledigt, „und im Dorf lauerten Paparazzi hinter jeder Ecke“, erzählt die 74-Jährige. Michael Schumacher hingegen hat 2001 – mit grüner Kiepe auf dem Rücken – engagiert geerntet, wollte aber den obligatorischen Gewehrschuss nicht abfeuern.
Peter Ustinov verbummelte 1995 den Treffpunkt im Dorf, kam dann lässig ganz alleine den Berg hoch geschlendert. „Ach ja, und Italiens Filmdiva Gina Lollobridgida war nach zwei Gläsern unseres Sailloner Weins ganz beschwipst.“ Am meisten Publikum hatte der Dalai Lama: 10.000 Menschen jubelten ihm zu, als er 1999 – symbolisch – neuer „Besitzer“ des Weinbergs wurde, den französischen Priester Abbe Pierre beerbend. „Der hatte – als strikter Anti-Alkoholiker – in den Jahren zuvor statt Wein- eine reine Traubensaftproduktion propagiert“, raunt Rita „und dadurch für eine leere Spendenkasse der Farinet-Freunde gesorgt, weil nur wenige Menschen den Null-Promille-Most kaufen wollten.“
Auf den Spuren eines Gentleman-Gauners
Seit 1995 wandelt jeder Saillon-Besucher unweigerlich auf Farinets Spuren. Nicht nur durch die verwinkelten Gassen an vielen seiner Verstecke vorbei und zum Grabkreuz hinter der Kirche, sondern auch auf dem vom Dorf eingerichteten Pilgerpfad mit 21 Lebensstationen des Falschmünzers – jeweils markiert durch ein rundes Glasgemälde mit Weinfass-Durchmesser. „Die Themen der Farinet-Bilder sollen Wanderer auf dem drei Kilometer langen Weg zum Nachdenken über ihr eigenes Leben anregen“, sagt Ursi Fäh, selbst Glasmalerin.
Vielleicht, damit es nicht so endet wie das von Farinet: Der Charmeur hatte in vielen Dörfern Geliebte. Eine verriet den 35-Jährigen aus Eifersucht an die Polizei. Die kesselte den Falschmünzer im April 1880 in der nahen Salentze-Schlucht ein, wo er nach dreitägiger Belagerung vermutlich halb verhungert abstürzte. Ein wenig Rest-Grusel dieses grausamen Todes gibt’s dort heute noch – auf der „Passarelle à Farinet“, einer schmalen, schwankenden, ihm zu Ehren errichteten Hängebrücke mit Panorama des Rhonetals, aber auch 136 Meter tiefem Abgrundblick – genau dorthin, wo der Falschmünzer leblos in einem Wasserfall lag.