Aufarbeitung oder Provokation – der Wohnturm von Prora
In Prora, einem „Unort“ mit Nazi-Vergangenheit, prallen geschichtliche Aufarbeitung, architektonische Ideen und kommerzielle Interessen aufeinander.
Binz.
Horizontal, alles horizontal – die Strandlinie, die Waldlinie und die kolossalen Blöcke der kilometerlangen NS-Hinterlassenschaft Prora, die mit schicken Ferienwohnungen aufgemotzt wurde. Den waagerechten Blickfängen in der Prorer Wiek auf Rügen, über die das Auge bislang ohne Halt schweifen kann, könnte in wenigen Jahren eine dominante Vertikale Einhalt gebieten.
Der Bauunternehmer Jürgen Breuer plant dort einen 104 Meter hohen Wohnturm auf einem Grundstück unmittelbar hinter dem denkmalgeschützten NS-Bau. Am 4. September stimmt die 5200 Einwohner zählende Gemeinde Binz in einem Bürgerentscheid darüber ab, ob der Verkauf des nur 500 Meter vom Strand entfernten Bodens an einen Investor erfolgen soll. Investor Breuer sieht dem Entscheid mit Nüchternheit entgegen. „Wenn der Bürgerentscheid Nein sagt, dann ist das Projekt tot.“
Das Vorhaben ist für viele eine Provokation. Nicht nur, weil das Hochhaus mitten in einer Urlaubsregion liegt, die auf Natur setzt. Das Haus soll an dem historisch sensibelsten Ort der Insel entstehen. 1936 begannen die Nationalsozialisten an dem unberührten Ostseestrand den Bau eines uniformen Massenseebades, das im Erleben eines Urlaubs der Gleichschaltung reichsmüder Volksgenossen dienen sollte. Wird dort nun der machtdemonstrierenden Monumentalität der 4,5 Kilometer langen Waagerechten die Monumentalität des Senkrechten entgegengesetzt?
Seit 20 Jahren als Denkmal festgeschrieben
Architekt Axel Drebing, der für den Wohnturm-Entwurf verantwortlich ist, widerspricht. Monumentalität stehe nicht gegen Monumentalität. „Prora ist seit 20 Jahren als Denkmal festgeschrieben“, sagt er. „Doch in der Euphorie der Wiederherstellung von Prora hat man versäumt, sich mit dem ursprünglichen Geist der Architektur auseinanderzusetzen.“ Hunderte Ferienwohnungen – fast alle mit gläsernen Balkonen zur Seeseite – entstanden bereits in der Häuserfront und gingen an gut situierte Anleger. Nach dem Verkauf der geschichtsträchtigen Blöcke durch den Bund boomt dort in Zeiten von Niedrigzinsen das Geschäft mit dem Betongold.
Diese fehlende Auseinandersetzung soll nun der Wohnturm bringen, der in den Entwürfen wie ein unordentlich sortierter Bücherstapel wirkt. Vor einem Jahr erlebte Drebing in Prora ein Konzert in der Reihe „Unerhörte Orte“ der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern. Nach einer Podiumsdiskussion über Lust und Last im Umgang mit dem Denkmal in Prora sei das Publikum gemeinsam zum Festspielort gewandert – zu „10 Märschen um den Sieg zu verfehlen“ des Komponisten Mauricio Kagel, erklärt Drebing.
Der Rhythmus gerät bei dieser Musik aus dem Takt – so wie die Füße beim Versuch zu marschieren. „Wenn die Musik es schafft, sich mit dem totalitären System auseinanderzusetzen, dann muss es die Architektur auch schaffen“, sagt Drebing. Die gegeneinander verschobenen Geschossdecken des Turms sollen das Gleichmaß stören – so wie der Takt der Kagel-Märsche den Gleichschritt verhindert. Ein Hochhaus auf Rügen – das kann nur an diesem Ort funktionieren, meint Drebing.
Baukulturelle Auseinandersetzung mit dem „Unort“
Investor Breuer schwärmt von dem sympathisch Unordentlichen des Drebing-Entwurfs, von einer gelungenen baukulturellen Auseinandersetzung mit dem „Unort“ Prora, an dem er – das sollte nicht unterschlagen werden – bereits jetzt mitverdient. In einem der einstigen NS-Blöcke baut, vermietet und verkauft auch er Wohnungen. Breuer spricht von einer Win-Win-Situation und einem „Trittbrettfahrergewinn“ für die Gemeinde, sollte das dahinter gelegene Grundstück an ihn gehen.
Doch geht es vielleicht doch nur um Gewinn, um viele veräußerbare Wohnquadratmeter auf kleiner Fläche in einem boomenden Bauareal? Ein erster Versuch der Gemeinde, das 13.000 Quadratmeter große Grundstück an einer befahrenen Straße direkt hinter dem Koloss von Rügen zu verkaufen, war gescheitert. In der Gemeindevertretung herrscht Konsens, das Grundstück zu versilbern. Aber an wen? Breuer bietet 3,5 Millionen Euro. „Die Gemeinde sollte die Chance nicht verpassen“, sagt er.
Aber das Vorhaben ist umstritten. Hoteliers fürchten zusätzliche Konkurrenz. Auch der Landrat von Vorpommern-Rügen, Ralf Drescher (CDU), hatte sich skeptisch zu den Plänen geäußert und deutlich gemacht, dass er sich ein Votum der Bürger gegen Hochhaus-Projekte wünscht. Viele Binzer sind enttäuscht von den Spekulationen um Grundstücke in ihrem Ort, fürchten einen „Nachzieheffekt“. Es fehlt bezahlbarer Wohnraum für die Einheimischen. Innehalten oder Weiterklotzen? In Prora – einem Ortsteil von Binz – entstehen laut Kurverwaltung in den nächsten Jahren 17.000 neue Betten, davon bis zu 10.000 für Gäste. Zum Vergleich: Binz ist bereits jetzt das größte Seebad auf Rügen und verfügt über mehr als 15.000 Gästebetten. (dpa)