Der demografische Wandel – ein Begriff, hinter dem eine älterwerdende Gesellschaft steht, die Städte und Wohlfahrtsverbände vor Herausforderungen stellt. Der Bedarf an Alten- und Pflegeheimen steigt. Gleichzeitig gibt es einen Trend zu gemeinschaftlichen Wohnformen. Wir stellen Projekte vor.
Essen.
In der ersten Nacht habe sie das Wasser draußen leise plätschern gehört, ansonsten sei es ganz still gewesen – oben in ihrer Dachgeschosswohnung. Kein Krach, den sie von einer Großstadt erwartet habe. Nur am morgen die ersten Gänse, die sie rausgelockt hätten. „Da wusste ich: Wenn ich irgendwo bleibe, dann hier. Das war so entspannend und ruhig“, sagt Doris zum Hingste verträumt.
Etwas mehr als einen Monat später: 13.55 Uhr an einem Donnerstag. Die Ruhe ist dahin. „Stopp. Da vorne fährt jemand raus“, ruft Evelyne Franz von der Rückbank des Kombis aus, als sie einen freien Parkplatz entdeckt. Also bremst Bettina Herling, die vorne am Steuer sitzt, manövriert den Wagen in die Lücke und kommt gerade zum Stehen, als Doris zum Hingste zu scherzen beginnt: „Aber die Bank können wir doch erst um 14 Uhr überfallen.“ Ein Lachen geht durch die Runde. Diese fünf Minuten bekommen sie sicher noch mühelos rum.
Wenn die Damen ihre wöchentliche Fahrt zur Bank und zum Supermarkt starten, dann wird es amüsant. Das hatten sie schon angekündigt, bevor sie im Auto Platz genommen, die Taschen und Rollatoren im Kofferraum verstaut und ihr Zuhause verlassen hatten.
Ihr Zuhause – das ist der Schürmannhof in Essen-Bergerhausen, ein heimeliger Ort. Hier wohnen sie in einer Senioren-Lebensgemeinschaft. 14 Wohneinheiten gibt es in den zwei liebevoll sanierten Fachwerkhäusern, mit den alten Backsteinen, den grünen Fensterläden und unzähligen Blumen im Innenhof.
Zwischen 66 und 92 Jahre alt sind die Bewohner, die hier morgens zusammen die Alpakas füttern, nachmittags „Mensch ärgere dich nicht“ spielen und sich abends in die Gemeinschaftsküchen zum Plauschen zurückziehen. Bis zum Lebensende können die Bewohner hier leben. Bei Bedarf kommt ein Pflegedienst ins Haus. Ein Auge auf diese Gemeinschaft hat Bettina Herling. Sie ist hier keine Pflegekraft im klassischen Sinne, sondern eine Betreuungsperson. Mehrmals pro Woche setzt sie sich ans Steuer, um die Senioren zum Einkaufen zu befördern.
Für die vier anderen Damen im Auto ist das aber mehr als eine Gewohnheit, sondern vielmehr ein kleines Erlebnis. Und ein richtiger Frauen-Trip. „Ach die Männer sind zu faul zum Einkaufen. Denen müssen wir immer was mitbringen“, sagt Evelyne Franz. Eine resolute kleine 80-Jährige mit roten Haaren. Neben ihr auf der Rückbank sitzt Doris zum Hingste. Ein bisschen klebt noch der Stempel „Die Neue“ an der groß gewachsenen 81-Jährigen.
Doris zum Hingste ist gerade erst aus Portugal zurück, als sie vor ein paar Wochen zum ersten Mal in ihrem Bett auf dem Schürmannhof schläft. Die meiste Zeit ihres Lebens hat die bescheidene alte Dame auf der iberischen Halbinsel verbracht. 1953 ging sie nach der Heirat in Deutschland zusammen mit ihrem Mann nach Portugal, arbeitete dort als Korrespondentin. Inzwischen ist Doris zum Hingste verwitwet. Und jetzt zieht es sie zurück in die Nähe ihrer Kinder, die hier in Deutschland leben. Ihre Tochter war es, die den Schürmannhof im Internet entdeckte.
Ein bisschen Portugal in Essen
Anfangs kann sie sich aber nur schwer von Portugal trennen. „Ich dachte, ich bekomme sofort Heimweh nach meinem Haus und dem Meer. Aber jetzt fühlt es sich an, als sei ich schon ewig hier.“ Ein bisschen Portugal hat sie sich schleißlich auch in ihre 23 Quadratmeter Wohnung auf dem Schürmannhof geholt. Es ist ein kleiner Tisch, dessen Kacheln mit Schiffen und Wellen verziert sind.
Im Supermarkt fällt Doris zum Hingste dann aber doch auf, dass sie sich an Manches in Deutschland noch gewöhnen muss. „Hier gibt es so viele Buttersorten. Das ist ja riesig, das Angebot“, sagt sie überrascht. Später im Auto hat sie dann ihren Humor wiedergefunden: „Das Klopapier ist hier aber wirklich besser. Nämlich vier -und nicht dreilagig.“
Doris zum Hingste scheint auf dem Schürmannhof nicht nur Menschen gleichen Alters, sondern auch solche mit demselben Humor und der gemeinsamen Liebe zur Natur gefunden zu haben. Wenn die 81-Jährige nach dem Supermarkt mit ihrer Mitbewohnerin Evelyne Franz Kirschen naschend auf der Terrasse sitzt – zwischen Geranien und Rosen; wenn sie über das beste Olivenöl Portugals und das Meer sprechen, dann kommen sie einem vor wie zwei alte Freundinnen, die sich lange nicht gesehen, aber noch viel vor haben.