Erste NRW-Kommunen ziehen bei Flüchtlingen die Notbremse
Fast 40 Kommunen mussten bereits per Überlastungsanzeige um einen Aufschub der Zuweisung weiterer Flüchtlinge bitten, so der Städte- und Gemeindebund
Laut Gesetz ist die Unterbringung der Flüchtlinge für Städte und Gemeinden in NRW eine Pflichtaufgabe
Seit Jahresbeginn haben in NRW 214.000 Menschen Zuflucht gesucht (Stand Ende Oktober)
Essen/Vreden.
Zum zehnten Jahrestag des Schneechaos im Münsterland hat die Stadt Vreden jüngst ein „Jubiläums-Buch“ veröffentlicht. Titel: „Plötzlich war es zappenduster“. Für Vredens Bürgermeister Christoph Holtwisch ist auch jetzt ‚zappenduster‘ – nicht wegen Schnee, sondern wegen der Flüchtlinge. Er hat jüngst der zuständigen Bezirksregierung ein Ultimatum gesetzt. Während Bund und EU-Staaten nach wie vor keine Lösung haben, wie Flüchtlinge verteilt und wie und wo sie registriert werden sollen, sehen sich manche Kommunen in NRW ihren Aufgaben kaum mehr gewachsen.
In Vreden leben zurzeit etwa 440 Asylbewerber. Die Stadt hat 22.000 Einwohner. Es sei zudem „zunehmend unmöglich“ freie Wohnungen für Flüchtlinge zu finden, beklagt Bürgermeister Holtwisch. Das „erschwere auch den Vredenern selbst“, vor Ort Immobilien günstig zu kaufen oder zu mieten. Viele Asylunterkünfte seien überbelegt. Das führe auch zu Streit unter den Bewohnern. Holtwisch berichtet auch von „Übergriffen“ auf städtische Mitarbeiter, die aber „allesamt ohne größere Schäden abgewendet werden konnten“. Es gebe auch „gesellschaftliche Spannungen“ im Ort, berichtet Holtwisch; das Jugendcafé etwa hätten zunehmend „alleinreisende junge Männer“ okkupiert. Insgesamt sieht der Bürgermeister seine Verwaltung „an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit“, weil sich derzeit nahezu alles vornehmlich um Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen drehe. Andere Verwaltungsbereiche lägen brach, die „kommunale Selbstverwaltung“ sei inzwischen „in Frage gestellt“, sagt Holtwisch. Das sei auch ein Rechtsverstoß.
Knackpunkt ist die Unterbringung von Flüchtlingen
Flüchtlinge in Duisburg“Annähernd 40 Kommunen mussten bereits per Überlastungsanzeige um einen Aufschub der Zuweisung weiterer Flüchtlinge bitten“, beklagt der Städte- und Gemeindebund NRW. Ein Sprecher sagt: „Es wird selbstredend immer mehr Überlastungsanzeigen geben, da die Aufnahmekapazitäten der meisten Kommunen nahezu erschöpft sind. Unterbringungsmöglichkeiten seien eben nicht so schnell zu beschaffen, wie sie gebraucht würden: „Das Land NRW versteht sehr wohl, dass die Kommunen nicht zu etwas gezwungen werden können, das sie objektiv nicht zu leisten imstande sind. Es geht ja um die Bereitstellung menschenwürdiger Unterkünfte. Wenn man hier die Maßstäbe drastisch absenken würde, könnte man zweifelsohne in vielen Kommunen noch mehr Flüchtlinge ‚vor Regen und Wind schützen‘. Das hätte aber mit Unterbringung nichts mehr zu tun.“
So betont man auch in Langenfeld bei Düsseldorf, „wir kommen unserer Pflicht nach“ und arbeiten „mit Hochdruck“ daran, Asylsuchenden die nötige Unterkunft bereit zu stellen. Man hatte das Land ebenfalls lediglich zuletzt um zwei Wochen Aufschub gebeten, um neue Flüchtlingsunterkünfte herrichten zu können. „Den Aufschub haben wir bekommen“, sagt ein Sprecher. 700 Asylbewerber seien seit Jahresbeginn nach Langenfeld gekommen. „Wir werden in diesem Jahr wohl die 1000-er-Marke erreichen“.
„Brandbriefe haben keinerlei Einfluss auf die Zuweisung an sich“
Laut Gesetz ist die Unterbringung der Flüchtlinge für Städte und Gemeinden in NRW eine Pflichtaufgabe. „Wir glauben, dass sich unser System gerade überfordert“, kritisiert deshalb Vredens Bürgermeister Holtwisch. Mit über 200 anderen Bürgermeistern aus NRW hatte er bereits im Oktober per ‚Brandbrief‘ Bundeskanzlerin Angela Merkel aufgefordert, endlich „den Zustrom (an Flüchtlingen) in Deutschland zu verringern“, auch mit Blick auf die anderen EU-Staaten: „Die derzeitige Flüchtlingskrise kann nur auf europäischer Ebene gelöst und in national verkraftbare Dimensionen gelenkt werden.“ Holtwisch: „Das Problem für uns in den Kommunen ist auch, dass es keine Perspektive gibt, wieviele Flüchtlinge noch kommen werden“.
Aschebergs Bürgermeister Bert Risthaus hatte als erster bereits am 7. Oktober der zuständigen Bezirksregierung Arnsberg die „Überlastung“ seiner Kommune angezeigt – mit Wirkung: „Vier Wochen wurden uns keine neuen Flüchtlinge zugeteilt“, sagt Helmut Sunderhaus, Chef im Ascheberger Ordnungsamt. Seit dem 13. November würden wieder neue Asylbewerber im Ort (15.000 Einwohner) aufgenommen, bis Ende das Jahres dürften es 330 werden, glaubt er. Weitere Unterkünfte seien zwischenzeitlich von der Stadt gekauft, angemietet und hergerichtet worden. Zudem würden Zuweisungen erstmals telefonisch abgesprochen: „Bis dato gab es eine Mail und nach drei Tagen stand plötzlich ein Bus mit Flüchtlingen vor der Tür, frei nach dem Motto ‚Friss oder stirb'“. In anderen Kommunen laufe dies aber nach wie vor so ab, sagt Sunderhaus. Die Bezirksregierung Arnsberg widerspricht in diesem Punkt: „Aufgrund der Gesetzeslage können wir keine Flüchtlinge erst nach Rücksprache mit der Kommune zuweisen. Die Kommunen sind per Gesetz zur Aufnahme verpflichtet, wir sind per Gesetz zur Zuweisung verpflichtet“. Brandbriefe „haben deshalb keinerlei Einfluss auf die Zuweisung an sich.“
Seit Jahresbeginn haben in NRW 214.000 Menschen Zuflucht gesucht (Stand Ende Oktober). Pro Woche waren es zuletzt zwischen 13.000 und 15.000. Für jede Kommune gibt es eine Aufnahme-Quote. Komme eine Überlastungsanzeige, werde die geprüft, erklärt ein Sprecher der Bezirksregierung Arnsberg: „Es ist lediglich möglich, dass wir eine kurzzeitige ‚Pause‘ gewähren. Weil die jeweilige Kommune dadurch aber unter ihr Soll, das heißt die zu erfüllende Quote fällt, muss sie nach der Pause ’nacharbeiten‘, bis sie wieder ihre Quote erfüllt.“
In Vreden sieht Bürgermeister Christoph Holtwisch sich deshalb längst noch nicht am Ziel. Sein sechseitiger Brief sei ein „Alarmzeichen“, sagt er. Er hat ihn auch NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft geschickt und Landtags- und Bundestagsabgeordneten aus der Region. Für eine Woche würden Vreden jetzt keine neuen Flüchtlinge zugeteilt, sagt Holtwisch, bis einschließlich 7. Dezember. Wie es dann weitergeht? Holtwisch: „Ich werde wieder mit der Bezirksregierung telefonieren. Eine Woche Aufschub hilft uns nicht viel“.