Die deutsche Geschichte hat Helmut Schmidt tief geprägt – und der Politiker selbst prägte die deutsche Nachkriegsgeschichte.
Hamburg .
Am Ende kamen ihm fast die Tränen. Die Herbstsonne schien an diesem 2. Oktober 1982 auf den nüchternen Exerzierplatz beim Bundesverteidigungsministerium in Bonn. Das Musikkorps spielte die Nationalhymne, die Soldaten legten ehrerbietig die Hand an die Mütze. Und in einer Schleife marschierte das Wachbataillon um den scheidenden Verteidigungsminister Hans Apel und Bundeskanzler Helmut Schmidt, der einen Tag zuvor im Bundestag durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt worden war.
„Er stand still und aufrecht – wie ein Denkmal seines Pflichtgefühls“, schrieb das Hamburger Abendblatt über diesen Oktobertag. Den Tag nach der Zeitenwende in der Bonner Republik: Das sozialliberale Bündnis war nach 13 Jahren am Ende, die FDP lief mit fliegenden Fahnen zur Union über; erstmals in der Nachkriegsgeschichte wurde der wichtigste Mann der Republik gestürzt. Helmut Schmidt, der letzte Kanzler der Kriegsgeneration, musste abtreten und dem Nachgeborenen Helmut Kohl Platz machen, der von seiner „Gnade der späten Geburt“ sprach.
33 Jahre sind seitdem vergangen – eine politische Ewigkeit. Man muss nur der Rede lauschen, die der ehemalige Soldat der Wehrmacht und spätere Bundesverteidigungsminister und Kanzler dort hielt. Helmut Schmidt lobte die Rolle der Bundeswehr in der Bonner Republik und zitierte einen Generalinspekteur: „Wer es wagen würde, gegen unsere Demokratie auf die Barrikaden zu gehen, der würde Gewerkschaften und Bundeswehr auf derselben Seite der Barrikaden finden.“ Was heute eine Selbstverständlichkeit ist, war damals noch eine ausdrückliche Erwähnung wert.
Kanzlerschaft in turbulenter Zeit
Es waren turbulente Zeiten, in den Helmut Schmidt Kanzler wurde – und noch turbulentere Tage, in denen er das Amt verlor. 1974 musste er das Kanzleramt relativ überraschend vom amtsmüden Willy Brandt übernehmen, der nach der Spionageaffäre um Günter Guillaume zurückgetreten war. Helmut Schmidt sagte später, er habe das Amt „nur aus Pflichtgefühl“ übernommen; hinter den Kulissen aber hatte er mit dem SPD-Fraktionschef Herbert Wehner eifrig am Sturz Brandts mitgewirkt.
Es folgten die vermutlich schwersten Jahre, die ein deutscher Bundeskanzler je zu bestehen hatte. 1973 hatte die Ölkrise das Wirtschaftswunder jäh beendet und damit das Modell des ausufernden Sozialstaats in Frage gestellt sowie den herrschenden Fortschrittsglauben erschüttert. Der Terror der „Roten Armee Fraktion“ forderte bald die noch junge und unsichere Demokratie heraus. Im Deutschen Herbst 1977 ermordete die RAF den Generalbundesanwalt Siegfried Buback und den Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Jürgen Ponto. Am 5. September 1977 entführte ein Kommando Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer und wollten im Gegenzug elf gefangene RAF-Mitglieder freipressen. Es folgten Tage der Hysterie im Land, die Rhetorik wurde immer schriller, Durchsuchungen und Razzien waren an der Tagesordnung, eine bleierne Zeit brach an.
Der damalige bayrische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß sagte beim CSU-Parteitag: „Man sollte einmal die, die für Freiheit des Volkes angeblich kämpfen, dem Volk überlassen, dann braucht die Polizei und die Justiz sich nicht mehr darum zu kümmern.“ Schmidt hielt auch in den Wochen der Hysterie Kurs und geißelte diese Aussage als „Rechtsprechung nach Art des Ku-Klux-Klans“, blieb in der Sache aber hart und lehnte einen Gefangenenaustausch konsequent ab.
„Gott helfe uns“ sagte er nur einmal
Daraufhin entführten Palästinenser im Oktober 1977 die Lufthansa-Maschine „Landshut“ und ermordeten den Piloten. Der GSG 9 gelang es, die Maschine in Mogadischu zu stürmen und alle 86 Geiseln unverletzt zu befreien. Daraufhin töteten die Geiselnehmer Schleyer, drei Terroristen begingen in Stammheim Selbstmord. Bei seiner Rede der Nation nach dieser erschütternden Tagen wählte Helmut Schmidt Worte, die er danach nie wiederholen sollte: „Gott helfe uns“.
Bis ins Private prägte die Terrorbedrohung sein Leben; zeitweise bewachten vier Bodyguards mit Maschinenpistolen die Familie, das Doppelhaus im Hamburger Stadtteil Langenhorn glich einer Festung mit Kameras und permanenter Polizeipräsenz. Tochter Susanne wurde quasi ins Exil nach London gezwungen, um dort ein normales Leben führen zu können. Für das Ehepaar Loki und Helmut Schmidt, die 68 Jahre lang verheiratet waren, ein hoher Preis. Die Bankmanagerin Susanne war das einzige Kinde der beiden; ihr zweites Kind, Sohn Helmut Walter, war noch vor seinem ersten Geburtstag 1945 gestorben. Andere zerbrechen an diesen Schicksalsschlägen. Helmut Schmidt nicht. Er war hart zu anderen und zu sich selbst; gejammert hat er nie.
In der Stunde des Verrats alleine
Nicht einmal in den Stunden des bittersten Verrats seiner Parteifreunde und des liberalen Koalitionspartners. Als ihn Kabale aus dem Kanzlerbungalow vertrieben, war er allein. Gattin Loki, Botanikerin aus Leidenschaft, hielt sich im Oktober 1982 auf Exkursion im brasilianischen Urwald auf. Ihr Vorschlag zurückzukommen, lehnte Schmidt schroff ab. „Der Kanzler ist Manns genug, um diese Schicksalsstunde allein durchzustehen“, sagte damals ein Vertrauter.
Wie konnte der Mann, der 1980 seinen Herausforderer Franz-Josef Strauss mit seiner Koalition noch klar geschlagen hatte, binnen 24 Monaten so an Macht einbüßen? Die Geschichte erzählt viel über eine pubertierende Republik und die Verfasstheit der SPD.
Bei der Nachrüstung verließ die SPD den Kanzler
Als einer der Architekten hatte Helmut Schmidt den NATO-Doppelbeschluss Ende der Siebziger Jahre vorangetrieben. Nach der Aufrüstung der Sowjetunion mit SS-20-Raketen fürchteten viele im westlichen Bündnis ein Ungleichgewicht des Schreckens – plötzlich schien in Europa ein begrenzter Atomkrieg möglich. Der überzeugte Atlantiker Schmidt drängte auf Verhandlungen zum Abbau von Atomsprengköpfen oder – im Falle eines Scheiterns – die Nachrüstung.
Daran entzündete sich eine innenpolitische Krise. Je näher die Nachrüstung rückte, desto stärker wurde die Friedensbewegung. Hunderttausende gingen auf die Straße – und die SPD rückte angesichts der Massenproteste von Kurs und Kanzler ab. Beim SPD-Parteitag im November 1983 stimmten von rund 400 Delegierten nur noch 15 Sozialdemokraten für die Stationierung der Raketen. „Das Schiff verlässt den Lotsen“, titelte der Spiegel genial. Willy Brandt hatte da als Redner auf Friedensdemonstrationen den Bruch mit seinem Nachfolger längst vollzogen.
Die Verletzungen haben Schmidt bis an sein Lebensende geprägt: „Der damalige Nato-Doppelbeschluss hat eine Massenhysterie ausgelöst. Ich habe sie vorausgesehen, habe sie aber unterschätzt. Es war völlig verrückt. Der Alternative ‘Lieber rot als tot’ haben Hunderttausende angehangen damals, und sie hatten unrecht. Die hatten alle Angst vor dem Tod. Ich habe nie Angst gehabt, auch nicht vor dem Tod“, sagte er noch 2013 im Gespräch mit seinem Freund, dem Schriftsteller Siegfried Lenz. Als der Bundestag 1983 die Nachrüstung beschloss, stimmte nur noch die Regierung aus Union und FDP für die Stationierung von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern.
Isolation schon früh gespürt
Schmidt hatte indes schon wesentlich früher gespürt, wie isoliert er in der SPD war – bald nach dem Sieg 1980 bei der Bundestagswahl erodierte seine Macht. Vordergründig zerbrach das sozialliberale Bündnis im September 1982 zwar an Differenzen in der Sozial- und Wirtschaftspolitik, in Wahrheit aber wegen des Abdriftens einer ganzen Partei. Die Wirtschaftskrise 1981/82 – die Wachstumsraten fielen in der erfolgsverwöhnten Republik auf immer kümmerlichere Raten, die Arbeitslosigkeit stieg über zwei Millionen und mit ihr das Minus in den Staatskassen – , waren nur der willkommene Auslöser der Wende. Die andere Wende hatte längst die SPD hingelegt.
Auch deshalb war nach dem Machtwechsel in Bonn rasch klar, dass Helmut Schmidt weder als Fraktionschef der SPD noch als Kanzlerkandidat bei den Neuwahlen 1983 antreten würde. Gesundheitlich nach einer Herzoperation 1981 angeschlagen, der Partei entfremdet, plante er schon für sein neues Leben.
Offene Arme in Hamburg
Dieses führte ihn zurück in seine Heimatstadt Hamburg. Im Mai 1983 wurde er Mitherausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“, als gern gebuchter Referent im In- und Ausland und Buchautor nutzte er die neue Freiheit. Und setzte sich damit weiterem Argwohn der Parteifreunde aus. „Ein sozialdemokratischer Bundeskanzler fährt nicht in der Welt umher, für viel Geld, kommt nicht in den Bundestag, wird kaum im Parteivorstand und Präsidium gesehen. Das vergeben ihm die Genossen nicht so schnell“, ätzte damals ein Präsidiumsmitglied. Tatsächlich sollte die Versöhnung mit der Partei noch Jahre auf sich warten lassen. In Hamburg ging es schneller – die Ehrenbürgerwürde bekam er schon 1983.
Hier hatte man sein erstes Leben als Politiker nicht vergessen: 1945, gleich nach seiner Kriegsgefangenschaft, schloss sich der Sohn eines Studienrats der SPD an. Desillusioniert vom Dritten Reich und seiner Zeit als Soldat an West- wie Ostfront, begann er ein Studium der Volkswirtschaftslehre und der Staatswissenschaft an der Universität Hamburg. Früh kreuzten sich seine Wege mit dem späteren Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller (SPD), der den jungen Schmidt 1949 in seine Behörde für Wirtschaft und Verkehr holte. Hier wie in der Partei machte der rhetorisch und politisch Hochbegabte rasch Karriere. 1953 wählten die Bürger Schmidt in den Bundestag, 1961 berief ihn Hamburgs Bürgermeister Paul Nevermann an die Spitze der Polizeibehörde.
Sturmflut-Einsatz machte ihn bundesweit bekannt
In diesem Amt hatte der zu dieser Zeit 43-Jährige seinen ersten großen Auftritt, der ihn bundesweit bekannt machte. Bei der verheerenden Sturmflut vom Februar 1962 rief er Bundeswehr und Nato-Kräfte zu Hilfe, um Tausende Hamburger vor dem Ertrinken zu retten. Geltendes Recht ignorierte er dabei. „Ich habe das Grundgesetz nicht angeguckt in jenen Tagen“, sagte er später stolz. 315 Menschen ertrinken in den Fluten, aber jeder Hamburger Grundschüler weiß: Ohne den beherzten Einsatz des Senators Schmidt wären es noch viele mehr gewesen. Damals trauten ihm viele Hamburger das Amt des Bürgermeisters zu – doch Schmidt drängte 1966 zurück in die Bundespolitik.
In der Großen Koalition wurde er 1967 Fraktionsvorsitzender der SPD. Zwei Jahre später trat der überzeugte Fürsprecher einer demokratischen Armee als Bundesverteidigungsminister in das Kabinett Brandt ein. Dann ging es Schlag auf Schlag. 1972 beerbte er seinen großen Förderer Karl Schiller als Superminister, einem Ressort, das Wirtschaft und Finanzen bündelte. Wiederum zwei Jahre später wählte ihn der deutsche Bundestag zum fünften Bundeskanzler.
Geachtet wurde Schmidt stets, geliebt erst nach seinem Abschied aus der Politik. Je älter er wurde, je konsequenter er bei öffentlichen Auftritten an seinen geliebten Mentholzigaretten zog, umso verzückter reagierten seine Zuhörer. Er wirkte zuletzt wie ein menschlicher Anachronismus, wie ein Zeitzeuge eines anderen Jahrhunderts, ja ein Orakel.
Gefragte Stimme abseits vom Mainstream
Was Schmidt in seinem Hamburger Slang sagte, wurde begierig aufgesogen, auch wenn er sich weit vom politischen Mainstream entfernte. Mit der Demokratie sei das Modell einer multikulturellen Gesellschaft nur schwer zu vereinbaren, postulierte er vor einigen Jahren. Und fügte hinzu: „Insofern war es ein Fehler, dass wir zu Beginn der sechziger Jahre Gastarbeiter aus fremden Kulturen ins Land holten“. Die Regierung in China verteidigte er engagiert gegen Kritik, er war von der Atomkraft überzeugt, den Umweltschutzgedanken hielt er lange für eine „Marotte gelangweilter Mittelstandsdamen“. Schmidt schrieb Dutzende Bücher, die zu Bestsellern wurden, er nahm sogar Klavierkonzerte auf Schallplatte auf. Sein Bild auf Zeitungs-Covern versprach Rekordauflagen, seine Besuche in Talkshows Traumquoten.
Zuletzt war Helmut Schmidt ein Geschichte-Erzähler. Geboren 1918, als der Erste Weltkrieg wenige Tage vorbei war. Heirat 1942, als der Zweite Weltkrieg tobte. Innensenator im Wirtschaftswunderland, Wirtschaftsminister in der Ölkrise, Kanzler im Deutschen Herbst, Publizist zu Zeiten der Wiedervereinigung, der Terroranschläge vom 11. September, der Eurokrise. Welcher Deutscher hatte den Deutschen so viel zu sagen?